Von der Sprache Art und den Un-Arten ihrer Sprecher

 

Folge 1:

 

Laute (starke) Zeiten, leise (schwache) Verben - in vorlauten PISA-Zeiten

 

Haben Sie gerade Lust zuzuhören? Meiner Sprache zu lauschen? Bzw. den Sprachzeichen mit Ihren Augen zu folgen? Hier nun: Reales aus dem Schulalltag:

"Wir reisten in den Schwarzwald. Mama und ich packten schon am Vortag die Koffer, und Papa tragte sie zum Auto in die Garage."

 

Sicherlich, ein (noch) seltener Fehler, aus einer Erlebniserzählung einer Schülerin der Klasse 5 eines Gymnasiums! Aber es tut sich was im allgemeinen Sprachwandel...

 

Oder dieser Witz (mehr als ein Witz - ein Gewußtes, ein Wissen:

Im Deutschunterricht. Dritte Stunde nach den Ferien. Hausaufgaben. Wer wollte, durfte ein Ferienerlebnis beschreiben. Sigrid liest aus einem Hausaufsatz: "Wir fuhrten ohne Mama los. Und dann, weil ich so Angst habte in unserer einsamen Ferienhütte, schlafte ich in der ersten Nacht bei Papa im Bett.“

Die Lehrerin will nicht länger zuhören und unterbricht Sigrid: "Aber nein, das stimmt so nicht! - Hör mal zu, Sigrid!" Und sie betont nachdrücklich: "Ich schlief bei Papa!"

"Aber, nein, Frau Schneider!" protestiert Sigrid. "Das kann nicht stimmen! Oder sind Sie erst später gekommt, als ich schon eingeschlaft war?"

 

Was ich vor zehn Jahren als Lehrer noch nicht bemerkt habe: Kinder bilden, wenn sie aus der Grundschule zu meiner Schulform, einem mittelmäßigen Gymnasium im Zentrum des Ruhrgebiets, kommen und im Elternhaus nicht selbstverständlich und nicht immer formal richtiges Hochdeutsch erleben, die Tempusstufe des Imperfekts nicht selten falsch. Mündlich noch häufiger als in der schriftlichen Fassung eines Aufsatzes oder einer anderen Hausaufgabe bekam ich schon folgende Verbformen zu hören:

Wir waschten uns. - Ich sprechte zu ihm. - Ich schautete den Fuchs am Waldesrand. Mein Vater ziehte los mit seinen Freimaurergesellen. Sie fahrten ab nach Schloß Kalbeck und sehten sich die Rosen an.

Insbesondere werden diese falschen Formen bei suggestiver, wörtlicher Rede innerhalb einer Ich-Perspektive in einer Erzählung gebildet. Beim Vorlesen dieser Aufsätze in der Klasse gibt es manchmal spontanes Lachen als Kritik an dem Grammatikfehler, der dann auch sofort bei dem ertappten Sünder selbst zu der Berichtigung führt.

Einmal, als ich nach den Sommerferien eine neue Klasse 5 übernahm, war das Gelächter gar nicht so sehr freundlich, eher hämisch und bösartig; es roch nach sozialer Diffamierung am Beispiel falschen Sprachgebrauchs. Nach einer Grammatikstunde mit dem Vergleich schwacher und starker Verben hat sich die Reaktion auf diese offensichtlich von umgangssprachlicher Schludrigkeit her eingeschlichene Unsicherheit in der Tempusbildung abgeschwächt.

Als bekanntes Beispiel für solchen Ablautwechsel im Imperfekt gilt das Verb „backen“. Es war ursprünglich unregelmäßig (buk, gebacken). „Buk“ ist aber verdrängt worden durch das einfachere „backen“, sicherlich in Parallele zu „knacken“, „wagen“, „ackern“ u.ä. Selbst Goethe schrieb bereits „backte“. Und in Schillers „Kabale und Liebe“ steht „backte“. - Die bis in den Realismus hinein feststellbare Variabilität als Ab-Schwächung bei Verben wie „nennen“ (zunehmend: „nennte“), für „kennen“ (häufig „kennte“) ist sicherlich durch die ordnende Hand Konrad Dudens und der Duden-Redaktion seit Ende des 1. Weltkriegs aufgehalten worden.

Für die neu sich einschleichenden umgangssprachlich geförderte Imperfektbildungen statt der schon häufig ungewohnt oder komisch klingenden Stammformen, die auf Ablautreihen aus dem Althochdeutschen zurückgehen, spricht wohl die sprachliche Geläufigkeit, für das schnellere Aussprechen und schnellere Verstehen. Es ist eine moderne Tendenz zum Sprachausgleich in der modernen Verbbildung. Sprachwandel läßt sich nicht reglementieren, da die zugrunde liegenden Mechanismen und Funktionen teils nicht bekannt sind, teils nicht veröffentlicht werden sollen, siehe die wirtschaftlichen Interessen, die zum Denglisch, bis zum Modesprech oder In-Speech. Die heimlichen Verführer des Globalmarktes sind psychologisch ausgefuchst und mit vielen „Prämien“ wie Angeberei, Erfolg und Prestige verbunden. Im Falle der falschen Imperfektformen haben wir durch Sprachtraining, durch einfache, geduldige Sprachpflege noch die Chance, die Standardhochsprache zu wahren. Auf englische Verben wie floaten, scratchen, shooten, spotten oder inlinen (beliebige Beispiele aus dem Wörterbuch der Szenesprachen; hrsg. v. Trendbüro) sollten wir ohnehin mit der deutschen Übersetzung reagieren.

Insgesamt zeigt die Tendenz zur vereinfachten Wort- und Tempusbildung, wie stark die Sprache als Reflex auf den Wandel sozialer Bedingungen und Strukturen funktioniert: hier die wirtschaftliche Verfügbarkeit besonders von Kindern und Jugendlichen zum schnellen Verbrauch, zum unkontrollierten Genuß, zur Aufhebung der Selbstverantwortung.

Auch im Englischen gibt es Unsicherheiten im Imperfekt bzw. Doppelbildungen für die Stammformen und Doppelformen.

Im Deutschen bilden wir alle neuen Verben - meistens als Übernahmen aus dem Amerikanischen in den Bereichen Technik, Politik, Wirtschaft, Werbung, Mode und Sport). So heißt es ganz leicht und sinnvoll: Wir computerten bis morgens um 6 Uhr. „Den Schreibfehler deletete ich aber fix!.“ - Übrigens hat sich hier die Übernahme von „to delete“ (amerik.) nicht durchgesetzt, sondern ist durch das einfachere, angenehmere „löschen“ ersetzt worden. ein seltenes Beispiel von Behauptung deutschen Sprachguts...

 

Heute heißt es also, möglichst fehlernah üben - und in Partnerarbeit sollen die Kinder die falschen Zeitenbildungen aus dem Aufsatz herausfinden. Die Fehlformen werden (nach Auftreten in Schrift oder Sprache) an die Tafel geschrieben. (Ich weiß, dass heißt den Aufstand unter deutschen Ober-Rechtschreib-Pädadgogen zu riskieren und Krieg mit einigen walddorf-gewandten Müttern der Schüler.... Ich möchte die Fehler wegstreichen können - optisch wirksam....)

Demnach: Die Schüler bildeten Beispiele zuerst im Unterricht (dann in der Hausaufgabe) nach folgendem Muster:

Beispiele:

reden:                     sprechen:

Ich spreche, sprach, habe gesprochen

Ich rede,                  redete........

 

Es müßte möglich sein, die wichtigsten Grundverben (sehen, denken, lesen und etwa zweihundert andere) freizuhalten von unsinnigen, fremdgesteuerten Interessen, auch wenn die sprachlichen Veränderungen den sozialen Umbruch nicht auf Anhieb erkennen lassen. Die wirtschaftlich geförderte, erfolgreiche, manipulative Tendenz zur Aufhebung der Frustrationstoleranz, zum Anheizen des Verbrauchstempos, zur Ankurbelung der Lebensgeschwindigkeiten ist offenkundig, global initiiert - und nur lokal zu bewältigen. Ein solches Sprachlokal ist auch der Klassenraum... Pädagogisch aufgezäumte Verbote sind sinn- und wirkungslos. Sprachgebote muß man motivationsstark und sensibel - ohne die Sprachgesten und die Psyche von unkorrekt sprechenden Kindern zu brechen, die ihre Sprachabart ihrem sozialen oder materiellen Hintergrund verdanken.

Solche Sprachlokale sind auch Versammlungsräume von Freimaurern, die sich alten Geboten, vielleicht dem Lessings, entsprechend, suchen und finden, auch um in der Kommunikation einer Sprache zu dienen, die grammatikalisch angemessen, menschenfreundlich und literarisch den deutschen Vorbildern nachzueifern sucht - nicht: nachzuplappern...

Also, Lessing! Pardon. Aber das - nur - noch!

Im Rhein- und Ruhrgebiet - dem exemplarischen, nieder- und trotzdem leitdeutschen Grenz- und Ausgleichsgebiet mit seinem speziellen Soziolekt des realen, nicht nur kabarettistisch wirksamen Ruhrslangs - scheint mir die Verbbildungschwäche (neben den Kasus-, Wortfindungs- und Vokalisationsschwächen) stärker zu sein als in anderen Teilen Deutschlands; innerhalb der europäischen Assimilationsphänomene und Ausgleichstendenzen hinsichtlich Grammatik und Rechtschreibungsordnungen könnte es multilingualer Vorreiter (Trendmixer - s. Wörterbuch der Szenesprachen. 2000. S. 107) werden...

Europa du hast es besser.“ Goethe (in: „Den Vereinigten Staaten...“) wußte von diesen regionalen Akamien (vgl. Hömma-Lexikon der Ruhrsprache), Avancen, Avantis, Upgrades und up-and-downs noch nichts...

Also, Lessing! Pardon. Nunmehr nur noch was von G.E. Lessing, dem größten Aufklärer, seit sich die deutsche Sprache entwickelt- und manchmal auch ver-wickelte: Zeit seines Lebens hielt er sich an den von ihm selbst ausgesprochenen Satz: "Die größte Deutlichkeit war immer die größte Schönheit". Lessing, der Prediger und Dichter, achtete stets darauf, daß der Leser oder Hörer seine Gedanken verfolgen und nachvollziehen konnte. Dazu gehörte natürlich das Deutsch seiner zeit, das er selber mitgestaltete. Um der Aufklärung willen, die er als Lebensaufgabe vollzog.

 

Ich hoffe nur: Mein Text - es sei erkennbar - er sei durchdacht und nachvollziehbar formuliert - und setzt sich somit der Kritik aus - vielleicht dem Lob oder dem Verdacht der Aufklärung ... Beides gehört zur Leitkultur, nicht nur der deutschen, vielmehr jeder, die nicht nur vorgibt, den Menschenrechten und -pflichten zu dienen, sondern diesen Dienst vollzieht für Nachahmer...

Und dem Standard von PISA-Pflichten möchte ich mich - und alle Schüler Deutschlands - unterwerfen wissen. Dort wurde mit Gedanken und technischem Nonsense jongliert. Was Schüler wirklich wissen - was sie verhandeln und warum sie handeln können und möchten - nix - das war in den Fragen einiger weniger Bildungsformal-Trickser nicht vorgesehen. Wir sind schon auf dem richtigen Weg: die Mehrzahl der Gesamthauptschüler können nicht lesen und wissen auch nicht, was sie damit anfangen sollen. Unterrichten wir sie - first class - in Pidgin-Deutsch! (Sie meinen: -Englisch? Fragen wir die Spot-Standards bei rtl und sat1 ab.)

Und das zweite reale Ergebnis unserer teuren PISAner? Die fleißigen Mädchen in den oberen Ränge der Gymnasialsuiten waren immer eine Freude ihrer Eltern und Lehrer. Daran läßt sich nichts verbilden.

 

Wir Pseudo-Gebildeten Klugschei-scheibenkleisterer können uns nur vorwärts - reziprok-retrograd-zirkumflexibel - evaluieren. Oder: revolutionieren? Fragen wir als gute Beamte unsere Abteilungsleiter. Oder haben sie gerade an einer Fortbildung - sprich Golf  for beginners -teilgenehmt?

 

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