Anton Stephan Reyntjes
Wenn Sprache fremdelt. Wenn Sprecher fremd gehen
Fremd im Haus
der Sprache?
Oder
Unser täglich
Neuwort gib uns heute, aber dälli, äh, plies!
Wir, eine Normalfamilie, arg verschult, mit zwei
Kindern, Frau und Mann - haben eine Woche lang versucht, bewußt jedes neue Wort
zu registrieren, das in unseren Gesichts- oder Lesekreis geriet. I., E., T., R.
und K. sammelten und besprachen die Wortausbeute, wenn sie sich zu Essenszeiten
am Tisch trafen: cross-over, surplus, tree-hugging (ein alternativ-magisches
Bäume-Umarmen und -besprechen; ein Hit unter alternativen Kulturritualen?),
Veganer (speziell beißende Sorte Menschen unter den Vegetariern), Mascara,
sunsation, Intersunsation, Hairport
(für einen neuen Friseurladen, die ja ständig Probleme haben mit den Köpfen und
Frisuren ihres Publikums; haar-monie (Kathy las, mit Fingerlockendrehern,
haarmoney, angesichts von Taschengeldnöten) sah ich jüngst; toller Ladenname!);
auch mal einen one-world-manager, der sich mit der Visitenkarte von Deutschland
größtem und werbefreudigsten Wasserwerk vorstellte.
Skipping? Tipping? Tinning? Rinning? Noch weitere
Vorschläge, sozusagen tippings!
Das Fremdwort Klientel erwischte ich, grammatisch
falsch, ohne Vorkenntnis des lateinischen Genus, als den Klientel konstruiert,
in einem formal ganz korrekten Brief einer städtischen Kultureinrichtung.
(Könnte sich zum CNI = culturell-nonsense-institute umtaufen.)
Weitere faule Fische im Sprachnetz: Twinbike, das
das ältere lateinisch-englische Tandem ablösen soll, wenn es nach dem Willen
eines Zweirad-Herstellers geht, neben dem schon von der Werbung durchgesetzten
Trekkingbike etc., so daß man vom Dreirad bis zum Senioren-Rad in seinem Leben
durchaus zehn oder mehr Zweirad-Modelle (hieß mal Brennabor; oh, ob mit zwei
nn? Wo krieg ich die Antwort bloß her? Irgendwo aus der confoederatio
helvetica; wenn die dort noch wissen, warum sie CH auf die stamps knallen..),
also die nützlichen Drahtesel kaufen wollen sollte... (Wenn die gute alte
Geldoma noch mit den Fuffis mitplayt...)
Social-mobbing am Arbeitplatz; die Psycho-Keule;
plugged und unplugged (lassen Sie sich diese Feinheiten lieber von Ihrem
audiobegeisterten Nachwuchs erklären als von mir; Dummy (Plural Dummies) für
jeden Zweck, vom Rekonstruktionsversuch eines Verbrechens bis zu den crash-tests;
ach, crash-kids fällt dazu ein; früher hießen sie wohl Multi-Problemkinder,
noch früher Taugenichtse, was allerdings nur die Abwertungs-Perspektive der
Erwachsenen zeigte, nicht die Opferrolle; und was ist die schönere Wortbildung?
Opfer oder Täter? Victim or dealer?
Backstage, on stage, unplugged, noch bei Troste...?
Bei einigen Fremdwörter hatten die Beteiligten
unterschiedlichen Nachholbedarf; man oder frau (older generation, also die
Älteren) hatten sie bisher teilweise ausgesperrt und nahmes sie jetzt erst als
Volkssprach-Emmissionen wahr, wiewohl oder da sie schon lange öffentlich
kursieren, auf Werbeflächen erscheinen, in TV- oder Rundfunk-Spots als
Appetithäppchen den Aufmerksamkeitsimpuls setzen sollen. Auch neue,
deutschsprachig gebildete Wörter fielen uns auf: haselnussig, auch wenn es
natürlich in der Werbesprache eindeutig, sozusagen als konditionierendes
Zeichen wirken soll, haselnussig für ein Schocko-Produkt; aber den Zweck kann
jeder selber ignorieren, anders kann man sich nicht wehren in dieser
Gesellschaft, in der das Individuum durch geheime psycho-sensible Fäden an die
Ausgabenschalter der Konsumgüterindustrie angeschlossen wird.
Kastig las ich als Neubildung zu Kasten, als
Paralelle zu kastenförmig. Dieses Adjektiv dürfte kaum überlebensfähig sein;
aber Prognose kann es für sprachliche Erscheinungen nicht geben. Eine letzte
Neubildung, die ein noch junges Wort erwischt hat: Ost-Algie - eine
Weiterbildung zu Nostalgie, mit vielen spezifischen Konnotationen, die jeder
ausschlachten kann, etwa, daß sich in Ostdeutschland ein eigenes Gefühl für die
schönen alten Zeiten unter dem vorgetäuschten Sicherheitsgefühl der
Staatssicherheit erhalten hat oder neu (unter anhaltendem Unverständnis oder
wirtschaftlichem Druck aus dem Westen) auszubreiten beginnt. Wossi! Das
Gegenstück gibt es allerdings nicht. Oder fallen in Wossi eben zwei Vertreter
deutscher Spezies zusammen?
Korngesund, griffig, mittig, stinkig (hat sich sehr
schnell durchgesetzt, wie seinerzeit die Verbalkarriere der Frustrationsschwätzer:
frustriernd); neu auch frustig, stressig, total kaputtbar.
Mit ein wenig Sprachwehmut kann man natürlich
argumentieren, wie schön und flexibel und kreativ die deutsche Sprache noch
war, als Begriffe gebildet wurden wie Blickfang, Büstenhalter, Schaufesnter,
Neugiersnase, Zuschauer, Kulleraugen, Haarnadelkurve, Rundfunk und Fernseher;
selbst wieder untergegangene wie Gesichtserker, ungebräuchliche wie
Hebdrehwähler (eine spezielle technische Telefonschaltanlage) vermitteln ein
bißchen sprachvirtuose Nostalgie. Ein gezielter Kampf gegen sprachliche
Überfremdung ist zwecklos und unsinnig, er funktioniert auch nicht, wenn die
soziale und kulturelle Alltagswelt und die wirtschaftliche Realität konträr
verlaufen. Aber es können gesellschaftliche und eben immer auch sprachliche
Ereignisse eintreten, daß Jahrzehnte währende Tendenzen im ungestört
verlaufenden Import ausländischer Haltungen, Waren oder Wörter abreißen können.
Bei den seit dem zweiten Weltkrieg verlaufenden Waren- und Sprachströmen der
Amerikanismen (eingeschränkt auch der Anglizismen) ist es eine mächtige
Konsum-, Technik-, Politik-, Wirtschaft- und Sport-Begeisterung, das sein
stärkstes Be-Rauschen noch entfalten wird, im Siegestaumel der westlichen
Waren-Ideologie nach der Verabschiedung der kommunistischen wirtschaftlichen
und verbalen Kümmernisse. Der Endpunkt der Geschichte des expansiven
Sprachtransfers einer Supermacht zwischen den früheren, isoliert denkenden
Nationalsprachen ist dadurch freilich nicht erreicht. Druck erzeugt Gegendruck,
verbale actio auch die sprachliche reactio. Spannend ist es sicherlich, was
sich die Menschen ausdenken werden, die ideologisch werbemäßig und ökonomisch
erfolgreich die sprachlichen Bewußtseinszustände austesten und gezielt auf
Profitsteigerung hin noch verändern können.
And now that, as an nju motiwischön, verkünden Pa
and Ma: Als Anreiz zum Mitspielen: * Kennen Sie die (neuen) Begriffe
„Fremdwanne“ und „Lesemutter“, „Aktensneaker“, „Gebärsack“, gar: Schlepptop
(einmal zweimal p, dann einmal einmal p; also nicht die drei Pfeiffrschen F’s)
schon? - Haben Sie Lust, uns zu schreiben, ob diese speech—adventures
(Verbal-Abenteurer) ihnen schon begegnet sind? Oder was Sie sich unter diesem
Alt-Inter-Angelsächsisch-Deutsch vorstellen könnten, wenn sie sich vergewortwaltigen
ließen?
Samenheft, Hodencut, Kollateralhoden, Stalag-Titten
- unangenehm, sozusagen pathogen, non-empathisch? Good, okay, better this: Leitliebe (Bummbumm-Boris und Barlett-Babs,
so leitlobte und dienerte sich der stern an, bevor Samen-Raub (engl.
spermtheft), gar Hoden-Klau (engl. testicle-robbery) - ach, hatten wir schon,
sorry -einschlugen wie - die Drei-Monats-Blitze aus dem Schatzhaus des
Göttervater Zeus persönlich, bevor er schambereiten Io beregnete, in samtwarmem
soft-loving...)
With regards: Die BfG heißt SEB - und ein
Bankbeamter dieses „Mehr-als-eine-Bank“-Hauses konnte mir nicht explizieren,
was es heiße, irgendwiewas Skandinavisches...
Ein Witz, als
Pausen-Jingle, schmerzfrei, weil ohne Fremdwort:
Ein Lehrer, Germanist seinen Veröffentlichungen, Prüfungsberechtigungen und seinem verbeamteten Gewissen nach, sitzt allein in einem Zugabteil und kann den Blick nicht von der gegenüberliegenden Wand lösen. Dort hat eine Kinderhand mit einem Filzschreiber hingekritzelt: „Wer das liest ist ein Esel.“
Das fehlende Komma beunruhigt ihn. Endlich zückt er einen Textmarker und korrigiert die Zeichensetzung im Satz.
In diesem Augenblick tritt ein Schaffner ins Abteil. „Soso“, spricht der, und ein Leuchten liegt auf seinem Gesicht: „Da haben wir ja den Schmierfink endlich gefaßt. Und ich dachte, es wären Blagen gewesen.“
(Bieten Sie einmal Schüler/innen die spannende Aufgaben diese Anekdote in Denglisch, dem Neudeutsch – oder konsequenzt, pardon: konsequent, fremdwörtlich zu übersetzen. Einleitung:
Ein Magister, diplomierter Universitätsgermanist, sich...)
Ich habe mir - durchaus erfolgreich angewöhnt -, bei
zu viel Kauderwelsch, egal ob Denglisch oder Beamtenslang oder begrifflich
verstecktem Soziologen-Gemeinplätzchen oder gar Dummheiten oder Sportlichen
Angebereien, nachzufragen: „Bitte, habe ich noch - nach dem BGB vielleicht,
oder dem GG - das Recht, mit Ihnen deutsch zu sprechen? - Oder muß ich mir das
über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen?“
Ein berühmtes Beispiel der
Daseinsbeschreibung eines Sprachkritikers ist Karl Kraus‘ „Bekenntnis“.
Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der
Sprache wohnen.
Doch hab' ich drin mein eigenes
Erleben,
ich breche aus und zerstöre
Theben.
Komm’ ich auch nach den alten
Meistern, später,
so räch ich blutig das Geschick
der Väter.
Von Rache sprech’ ich, will die
Sprache rächen
an allen jenen, die die Sprache
sprechen.
Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.
ihr aber seid die kundigen
Thebaner.
Aus:
Karl Kraus: Magie der Sprache. Lesebuch von Heinrich Fischer. Frankfurt/M.
1974: suhrkamp tb. S. 315; zuerst in der „Fackel“ der deutschen Sprachwelt
geschenkt.
(Bis hierhin, hic et nunc, eine noch unvollendete
temptatio linguae, lieber Leser, liebe Leserin. - Ob’s gelang: neben dem
prodesse, auch zu delectare? Sprachfreunden gar fun geschenket, humorem pararet, esprit vermittelt?
Also - sprachlich bewußt - Erkenntnis und Unterhaltung bereitet? „Nehmt eure
Sprache ernst“, ermahnte uns Friedrich Nietzsche, einer größten Philologen
deutscher Zunge, d.h. Freund und Genosse des Geistes, der Wahrheit.
Continxerit, es möge gelungen sein...! Aber nicht nur für Lateiner - ob mit
Kleinen oder Großen oder brüchigem Latinum - verständlich: Jeder Sprechakt ist
ein Versuch der Verständigung, ob mit multikulturellem Flair, ob mit deutschem
Charme, ob mit europäischer Intention, ob im englischen Idiom: Da sollen Katzen
herabregnen, Zaunpfähle winken,die Sprache die Quelle aller Mißverständnisse
gewesen sein; der kundige Thebaner jahrelang geschwiegen haben; der Sprachgeist
ist für mehr als eine Dekade aus Weimar und Mitteleuropa ausgezogen, und es
herrschte nicht nur im Bezirk Buchenwald ein mörderischer Ungeist. - Da
verlangte eine niederländische Grammatik (1940 erschienen; neu aufgelegt 1953)
in meiner Schulzeit diese Übersetzung: Jedermann bewundert den schönen baum vor
dem Haus des Nachbarn (mit Erläuterungen den: Man schreibe bei
männlichen Sachnamen im Akksuativ de; schönen, bitte übersetzen
mit mooie) - als hätten die Niederländer besser ihren Brecht verstanden
als die Nachkriegsdeutschlehrer. Oder hatten sie nur ihre Beziehung zu Nachbarn
nicht verloren? - Oder, no, not the speak is in the dock, sondern nur die
Sprachmißbraucher, die linguistischen Saboteure. Comment vous portez-vous?
Wollen Sie chercher le médicin lassen, den Sprachendoktor, den
Sprachen-Paragraphen-Richter, den politique-professeur der lingua franca im
neuen Europa? Möchten Sie legal action taken, den Rechtweg derowegen
beschreiten, Exzellenz Oberstudienrat? Oder möchten Sie lieber Ihre Sprache selber
mitbestimmen?
Welche Neuwörter sich durchsetzen, Neologismen,
welche Worte wir uns verordnen - die Gesamtsprache wird nicht konstruiert,
sondern erprobt, nicht diszipliniert, sie kann glücken, muß nicht kaserniert
werde, wird vielmehr in jeder Metapher neu geschenkt. Neben
Wirtschaftsstrategen und Bankern, Politikern und Schwätzern, Sportlern und
Reportern, einer Mode-Sanders und einem Partei-Möllemann (dem neunmal x zwei %-
Angeber: oh, du Spottgeburt aus Prozent und Plappern; transgestaltet aus
Goethes Faust „Du Spottgeburt von Dreck und Feuer“, was zurückzuführen ist auf
„Menschlein, aus Lehm und Dreck geformt“); neben einem Erdenwürmchen Koppers -
ein Dichter Botho Strauß... Wie sprechen - so fragte nicht Zeus. Was tun,
fragte der Machthaber. Der wollte, brauchte, eben nur handeln, nach Willkür,
Machtinteressen und Sexualtrieb, aus Instinkt.
Lateinisch ist die lingua mala die Behexung gewesen.
Deren braucht ein Zeitalter, das aufgeklärt sein oder werden will nicht.
Nutzen wir die traurigen Aktualitäten, um einen
Begriff sprachlich zu untersuchen, der in seiner Abkürzung in aller Munde ist: BSE. BSE -umgangssprachlich - und die Medien haben sich
von diesem Vulgärausdruck längst verabschiedet, da er unpräzise und lediglich
Rinderwahn oder Rinderwahnsinn. BSE bedeutet Bovine Spongiforme
Enzephalopathie, zu deutsch: schwammartige Hirnkrankheit des Rindes und ist
eine Erkrankung bei Rindern mit Veränderungen des Gehirns.
Die entsprechenden Begriffe aus vier Sprachen, mit
deren Hilfe eine Wortgeschichte in ihren Veränderungen und Übernahmen - möglich
ist, lauten: bos (lat.)= Rind, spongia = Schwamm; forma (setze ich als bekannt
voraus); Enzephalie < en cephalos = im Kopfe und Pathie...
Mit den verschiedenen Artikeln zu diesen Worten ausgerüstet, könnten junge
Menschen, z.B. vor oder im Abitur, eine aktuelle Wortgeschichte, sprachlich eigenständig,
abfassen: vom Fremdwort zum Lehnwort, zur Wortmischung und Neuwort, zum
Fachbegriff. Alle Formen und Prägungen haben ihre Funktion, ihren möglichen
Sinn oder Unsinn; Wert oder Mehrdeutigkeit; keinen Ausdruck kann man verbieten.
Die Sprachgemeinschaften sorgen für einen Ausgleich, einen Wandel, eine neue
Runde im Sprachformung...
Doch immer gilt, was Kant schon sprach: Es ist so
bequem, unmündig zu sein.“ Das freie Wort des freien Menschen; es stellt zur
rechten Zeit sich ein. (Ja, Mephisto lästerte so: „Denn eben, wo Begriffe
fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“) Er muß ja nicht recht
behalten, der Sprachendiabolos, der Fliegengott, der diskursiv-eitle Schwätzer!
Also, neben terminici technici, neben festgefügten Begriffen, den
gewohnheitsmäßigen Sprachgriffen, bitte, sehr: neue Sprachangebote. Pasta,
z.B.? Nein, so nicht: Basta, nein, bitte, ohne Ausrufezeichen...
Jedes Kind lernt fremdeln, etwa ab dem achten Lebensmonat, muß fremdeln lernen, um eine sinnliche und kognitive Objektkonstanz zu entwickeln - um Bekanntes, Mütterliches, Väterliches, Familiäres, von Fremdem zu unterscheiden, um Neues aufzunehmen, um wahrnehmen zu lernen - und denken und schenken zu können...