Schulalltag
Story 6
Anton
Stephan Reyntjes
Unser aller Sheriff
Vormittag,
Alltag, Regentag, Brühwürfelmorgen für die Aktivierung des Kreislaufs! Trinkt
der Vater mit seinem Sohne, aus Sympathie. Hilft den Betram auf die Beine.
Pitschnaß
und mieskalt und schmutz-uselig ist's! Der angenehme Effekt "des warmen
Goldes", das in den Herbstferien "fließen" konnte, ist schon
verblaßt.
Ein
O-Stud-Rat läßt sein Fahrrad im Keller, und geht zehn Minuten eher los, rechts
die Tasche mit den Arbeiten zu Kästners "Fliegendem Klassenzimmer" in
der Hand, links der Regenschirm.
Wie
die Schüler sich morgens auf die Schule zubewegen, hat er schon lange nicht
mehr beobachtet: ruhig, wie magisch dirigiert, kaum eine überflüssige Bewegung,
keine Rempeleien.
Am
Fahrradkeller ist nicht viel los. Heute fahren die Leutchen lieber mit dem Bus.
Wer
sich trotzdem seine Hose auf dem Rad hat naß regnen lassen, darf sich in der
ersten Stunde an die Heizung setzen.
Zuerst
Deutsch in der 5, die Rückgabe der Arbeit; war ein Vergnügen, sie zu
korrigieren; es gelingt mir, den Spaß weiterzugeben. Dann die lausige 9. Wo
Peter es sich wieder einmal leistet, einen Beitrag eines Mädchens auszulachen.
(Wie werden die Kollegen mit dem Kerl fertig?)
Dann:
Klausur im LK Päd. 12. (Zwei Themen; ihre Verteilung: 3 zu 19, da könnte was
schiefgelaufen sein...) In der Springstunde Vertretung in einer unbekannten 8:
passend mit einem vergoldeten Ulmenblatt, das er sich vom Schulhof geholt hat,
ein Herbstgedicht, nein, nicht von Rilke, sondern wieder mal von Kästner:
"Der Himmel ist kalt und weit.
Auf der Milchstraße hat's geschneit.
Man hört seine Schritte wandern.
als wären es Schritte von andern,
und geht mit sich selber zu zweit."
(3. Strophe)
Den
Titel "Exemplarische Herbstnacht" hat er erst mal weggelassen; die
Strophen sind auf einer Kopie falsch angeordnet; in Partnerarbeit dürfen die
Schülerinnen ihre Scheren zücken und einen Vorschlag zur sachlich-logisch
richtigen Abfolge erarbeiten. Es klappt. Die weitere Arbeit kann der
Deutschlehrer der Klasse übernehmen; er wird ihn in der Pause informieren und
ihm das Arbeitsblatt geben.
Nach
der 6. Stunde kommt er wieder am Fahrradkeller vorbei. Drei Mädchen aus der
10c, schon pitschnaß, ganz oben auf einer nicht sichtbaren Palme! Sie holen den
Lehrer zu ihren Rädern. Die sind zusammengeschlossen mit einer rot-weißen Kette
von etwa zwei Metern Länge, mit häßlich-dicken, unzerrreißbaren Gliedern und
einem Kunststoffüberzug.
"Da
habt ihr den Herrn G. wohl geärgert?"
"Ja,
der Sheriff -!"
"Wer?"
"Unser
aller Schulhofsheriff hat rumgemeckert, als er heute morgen an uns vorbeiging.
Da blieb ihm wohl zu wenig Platz für seinen Prophetenbart."
"Aber
die Markierung hier für die Außenständer, die könnt ihr doch berücksichtigen,
wenn ihr die Räder abstellt? Na, wie war's?"
Helga
gibt zu: "2 cm!" Helen spendiert noch 50 mm! Und Kirsten summiert:
"Alles in allem höchstens neuneinhalb cm jenseits des Strichs!"
"Der
Sheriff will erst nach der 7. Stunde die Kette aufschließen. Und wir haben doch
jetzt frei!"
"Und
warum das?"
Er
habe jetzt eben Unterricht. Der gehe vor. "Verstehen Sie: Religion. Da
erklärt er den Kids die Welt und wie man sich verhält aus lauter
Nächstenliebe!" Und da wolle er in der Fünf-Minuten-Pause nicht gestört
werden; habe er im Beisein des Direktors bekräftigt, bei dem sie sich schon
beschwert haben.
"Jaja",
nicke ich - und verschweige: Der Neue! So hat er sich schon eingeführt. Er will
nicht Krach riskieren mit dem Stundenplan-Matador: Allroundkämpfer, mit der
Zusatzqualifikation kath. Religion, Abteilung Werteorientierung und
Vorbildfunktion.
Da
kneift der Direx lieber. Aber die Kettenaktion hier ist unverschämt, keine
Frage! Drei Kollegen gehen an uns vorbei zu ihren Autos auf den Parkplätzen,
sie sehen nix.
Da
schaut er, der stellvertretende Klassenlehrer der 10 c, die Straße hoch: 400 m
weiter ist eine Tankstelle! "Wenn ihr euch da einen Bolzenschneider
holt?"
"Oh,
ja!" Helen dreht sich noch mal um, obwohl sie schon losgerannt ist, und
droht mit dem Zeigefinger: "Dem Sheriff werde ich eine Abschiedsvorstellung
liefern!!" Ich weiß, sie will mit der Mittleren Reife in ein paar Monaten
abgehen.
"Aber,
bitte nicht mit Dynamit!" Die Drei hören den Lehrer nicht mehr.
*
Nachmittags,
Teepause und Telefon. Zwei Anrufe, nicht unerwartete: Helen erzählt ihm - mit Kichern,
daß der Meister in der Tankstelle alle drei Tornister als Pfand da behalten
habe, und, als sie den Bolzenschneider wieder abgaben, genau wissen wollte,
welchen Unsinn sie denn da gemacht hätten. "Ich hab ihn angelogen. Es sei
ein Scherz von unserem Klassendepp gewesen, an zwei zusammengeketteten
Lehrerrädern!" [Helen! Wenn du aus dem Kindergarten aussteigen und doch
noch zur Uni willst, fahr ich dich zur Anmeldung fürs erste Semester hin!
Notfalls mach ich in der Schule blau. Versprochen!]
Und
der Kollege G., kurz nach drei, entsteigt entsetzt dem Hörer: „Ihr Eingreifen!
- Was müssen Sie sich da einmischen?"
Ja,
da fühl -Apostroph - ich mich durchaus zuständig für die 10c. „Schauen Sie mal
in Ihre Listen, wenn Sie das vergessen haben, mit den Klassenlehrern und deren
Vertretern. Oder wollen Sie nur mit Rechtsanwälten sprechen? Und da haben die
mich angesprochen. So - als Projektmethode, verstehen Sie mich? -, haben die
sich selber helfen lassen. Im übrigen: Wenn Sie Schülern das Eigentumsrecht an
ihren Rädern vorenthalten wollen, sind Sie eben dran. Und da gibt es für Sie
keine Vorschrift aus der Hausordnung! Wovon Sie so gerne Gebrauch machen! Ein
pädagogisch wertvoller Fall der Selbsthilfe. Hoch motivierend! Und zur
Nachahmung empfohlen, wenn eine neue Kette fortzeugend immer Böses muß
gebären!"
"Aber
die Kette habe ich selber bezahlt. Da gab es keinen Topf für in der
Schule!"
Als
er noch erklären will, wie teuer die Kette war, verliert der Angerufene das
Interesse.
*
Zwei
Tage weiter erzählt ihm stolz und selbstgewiß Herr G., daß Brittas Mutter da
war. Erst um sich zu beschweren wegen der beschlagnahmten Räder. Und die
vernünftige Mutter habe, erklärt er mit überlegenem Lächeln, gesagt, als er
beschrieb, wie sich Britta benommen habe: "Dann hat sie sich das ja selber
zuzuschreiben! Was die in letzter Zeit ausheckt, seitdem ich ihr den Umgang mit
ihrem Freund verboten habe!" Und von den zwei anderen Mädchen oder ihren
Eltern habe er nichts gehört. "Wär ja auch noch schöner! Mischen sich in
alles ein, die Eltern!"
Er
ist zufrieden mit sich, der Sheriff des Schulhofs. Von der längerfristigen
Drohung wurde er nicht unterrichtet.
Abwarten,
Herr Magister! Oder auf die übliche Entschärfung bei Abhängigen durch die
langen Laufzeiten setzen!
Aber
Helen ist intelligent...
Die hat auch die PISA-Frage mit dem
Bezinverbrauch für die Rennwagen auf der Drei-Kurven-Strecke richtig
beantwortet. Ächt! Strong, dat Görl!