Schulalltag
Story
5:
Anton
Stephan Reyntjes
Mustafas
Aufsätzchen
Na
gut, er, der Kleine, zeigt auf, zwar etwas verhalten...
'Das erste Mal', denkt Frau P. erfreut, aber auch ein wenig besorgt, 'will er,
wie Jutta neben ihm, auch die Hausaufgabe vorlesen?'
Mustafa,
neun Jahre, ist vor fast drei Jahren aus dem Libanon gekommen; mit großen
Bedenken ist er in die zweite Klasse gekommen, um seiner körperlichen
Entwicklung gerecht zu werden. Seine Deutschkenntnisse waren null, als er hier
an der Grundschule angemeldet wurde.
Frau
P. nimmt ihn dran. Er liest vor, eine Erzählung zu der Bildergeschichte, die
wohl jeder Lehrer für Deutsch, egal an welcher Schulform, kennt: "Mein
kleiner Freund" von dem klugen Zeichner Hans-Jürgen Press: "Jakob und
die Fahrradpanne."
"Also,
Mustafa. Dann lies du jetzt mal vor!"
Er
liest (in deutlichem Ruhr-Slang): "Jak‘b fät den Farat. Tom fät auch
Farat. Jakob Farat ist kapputt. Ich hab ne Idee: Solln wia nomal baun?"
Frau
P. ist in die dritte Reihe gegangen und schaut ihm über die Schulter. Im Heft
ist das Arbeitsblatt eingeklebt, links die zwei lustigen Bilder von Press,
rechts der Freiraum mit den Doppellinien für die Hausaufgabe. Sie kann nicht
erkennen, was Mustafa da gelesen hat.
Gott
sei Dank! Leonie meldet sich und bittet: "Kann Mustafa den Aufsatz noch
mal vorlesen? Ich habe nicht alles verstanden. Er hat auch so schnell
gelesen."
Ein
anderes Mädchen sorgt sich mit: "Das war schon gut, finde ich, weil er ja
noch nie vorgelesen hat. Aber wenn du nochmals liest und wir schön ruhig sind,
klappt es noch mal so gut!"
Aus
dem Nachbarklasse taucht, ohne anzuklopfen, wieder mal Wolfgang auf, ein süßer
Clown. "Ich heiße Wölfchen. Ich brauch' Kreide. Zum Fressen."
"Willste dich wieder selber anmalen? Damitte größer wirkst?", fragt
Yvonne, die Tafeldienst hat. Und die Lehrerin: "Sag' mal höflich ‚bitte‘
und verlaß die Klasse schnell! Ja!" Wölfchen wartet. "Was ist
denn?" "Ich warte, dass Sie auch bitte sagen, bitte!"
Mustafa strahlt noch immer.
Leonie, die "Klassenmama", die sich durchsetzen kann mit ihrem
Körpergewicht, die ihn auch auf dem Schulhof beschützt vor den deutschen
Jungen, strahlt zurück. Frau P. freut sich über ein Stückchen Multikulti und
lacht unsichtbar über Political Correctness...
"Also,
Mustafa, du bist nochmals dran!" sagt die Deutschlehrerin. Nun hat sie das
Arbeitsblatt vor sich
und
vergleicht Wort für Wort mit dem Gelesenen, was Mustafa geschrieben hat; sie
wundert sich, es ist derselbe Text, wie er ihn auch beim erstenmal gelesen hat.
Jetzt spricht er sogar "Farrad" langsamer aus. Aber seine Geschichte
- wo steht sie? Er kann sie nicht erfunden haben beim Lesen. Und er kann doch
nicht vortäuschen und so tun, als lese er sie ab! Aber die Frau Lehrerin kann
auch nicht dem Text folgen, der auf dem Blatt rechts steht. Sie lobt Mustafa
nach dem Vorlesen und bittet ihn, in der Pause, für die gerade der Gong geht,
eben dazubleiben. "Weil wir noch ein bißchen was verbessern können an
deinem Text."
Und
wieder sitzt die Lehrerin nun, hat das Arbeitblatt vor sich und liest mit den
Augen und versteht nix:
Baun
soln
wir nomal
hab
eine ide
ist
kaput ich
jakobs
faraht
Fat
auch Farht
Farat.
Tom
jakob
Fat den
Sie
streicht sich die Stirn, schaut auf. "Mustafa, setz' dich bitte mal neben
mich. Und zeig mir mit dem Finger, wie du den Text liest, dann wird die
Betonung noch besser." Da setzt er seinen kleinen, sauberen Zeigefinger
unten links an und fährt nach rechts, in der untersten Zeile, dann eins höher, wieder nach ganz links und genau nach
rechts, dann in die nächsthöhere Zeile. Und auf einmal versteht die
Deutschlehrerin es, sie hört atemlos zu:
jakob Fat den
Farat. Tom
Fat auch Farht
jakobs faraht
ist kaput ich
hab eine ide
soln wir nomal
Baun -
Aber,
ja! Das hat ja Hand und Fuß! Frau P. kapiert, dass Mustafa den kleinen Text wie
eine arabische Schriftseite von unten nach oben und von links nach rechts
geschrieben hat. Da hat ihm wohl seine Schwester Inci geholfen, die sie häufig
bei Mustafa auf dem Schulhof sieht, weil sie schon zwei Jahre länger in
Deutschland ist. 'Aber Quatsch, dann schreibt sie doch bestimmt richtig! Die
muß es doch schon können!' Oder hat seine Mutter, die Frau P. noch nicht
kennengelernt hat, geholfen? Die Lehrerin atmet tief durch und stellt sich eine
Frage, wie schon oft: Warum werden Familien quer durch die halbe Welt gehetzt?
Verdammte Verfolgungen ethnischer oder religiöser Minderheiten! Was können wir
den Kindern bieten, um ihnen annähernd gleiche Chancen zu bieten wie
deutschsprachigen - die ganz selbstverständlich von oben nach unten und von links
nach rechts schreiben: eben deutsch! Und nicht nur beim Fernsehen alle
kulturellen Vorteile haben...
Sie
atmet tief durch und streicht Mustafa über den schwarzen Schopf: "Da
können wir noch etwas dran verbessern. Aber jetzt lauf erst mal auf den
Schulhof. Das hast du gut gemacht, prima! Halt - noch eben: Kommt deine Mutter
nächsten Dienstag zum Sprechtag?" Sie weiß nicht, wie sie seine
Kopfbewegung verstehen soll, nachdem er abgezischt ist.
Im
Lehrerzimmer kann keiner den Text lesen, bis Frau P. mit dem Finger drauf zeigt
und vorliest: "Jakob fährt das Fahrrad..."
"Das
ist ja wie Arabisch!"
"Dann
müßte er auch von rechts nach links schreiben; das hat er aber richtig wie
deutsch drauf!" "Erfolg von einem halben Schuljahr! Er schreibt von
links nach rechts!"
"Da
kocht ja der Ruhrpott - und die Lehrer lachn sich kaputt!"
"Ratatouille oder was? Wohl libanesisch-muslimisch, aber nicht deutsch!
Oder?" - "Wie lange ist der Junge schon hier, sagst du, Maria?"
– „Wahnsinn! Nich mal Schriftdeusch kapiert!“ „Was machste denn jetzt damit?
Mit dem Unglückswurm?“ – „Ich werde mal den Neuen dransetzen!" - "Meinen Referendar etwa?" "Ja,
der hat Arabisch in der VHS belegt. Oder war's Türkisch? Weiß selber nicht
mehr. Den schlepp ich auf jeden Fall mit zum Elternsprechtag, wenn du mir den
für Mittwochnachmittag ausleihst."
"Ja,
wo bleibt da denn deine Multikulti-Theorie?"
Es
soll ja nicht Theorie bleiben. Außerdem hilft dir vielleicht die Idee, dass wir
Glück hatten, dass wir nicht in Europa quer durch die Länder gehetzt wurden,
wegen eines schieren Arbeitsplatzes.“
„Was
soll das denn heißen?"
„Ja,
kannst du denn etwas dafür, persönlich, mein ich, dass wir hier sitzen und die Fremden nach den Begierden des Kapitals
rumgescheucht werden?"
„Mein
Gott, die alte Achtundsechzigerin! –
Wirst du nie erwachsen?“
Lachend,
ein wenig zittrig: „Von denen es mehr gibt, als die Presse es glauben machen
will. Die arbeiten, statt zu quatschen.“
„Dann
viel Glück, mit dem Projekt 'gesamteuropäische Fahrradreparatur'!“
"Kannze
für PISA-Ididoten anmelden!"
"Nänä,
keine Perlen für die teuren Obersäue!"
"Hass
recht, altet Schulhaus - du!"