Schulalltag:

Story 4:

ANTON STEPHAN REYNTJES

 

Vor der Klassentür

 

"Frau Langer, helfen Sie mir! Frau Langer! Bitte!"

"Was ist denn los, Helga? Du bist ja ganz aufgeregt"

Das Mädchen stürzt mir entgegen, als ich zur dritten Stunde in den ersten Stock steige und den Gang entlang zur 9 b gehen will.

"Die Heeertha ist wieder da, und ich -"

"Hertha heißt das! Immer noch"

"Frau Langer, ich-ich kann nicht mehr. Ich halt’ das nicht mehr aus! Darf ich nach Hause?"

"Ja, Frau Meyer sagte es mir schon - Aber warum willst du da jetzt weg?"

"Diese Blöde! Was ich mit der zu tun hab? Gar nix! Und die behauptet jetzt, wir hätten uns am Ostersonntag verlobt!"

"Wie bitte? Ihr? In den Ferien? Du wärst jetzt verlobt mit ihr?"

"Ja, so ähnlich! Sie erzählt da ein Blödsinn -" sie bricht ab.

"Was denn?"

"So eine dämliche Bettgeschichte, erzählt sie seit heute morgen. Seit sie da ist! Ich hab ihr das schon verboten und sie beschimpft, ganz kräftig ihr in die Haare gepackt; nachdem mir Jupp die Story zuerst rüberbrachte. Den Quatsch erzählt sie, seitdem sie heute morgen auf dem Schulhof ist."

"Und ihr seid nicht befreundet?"

"Wo denken Sie hin? Überhaupt nicht mehr; in der Grundschule mal, vor Jahrzehnten, ja, da hat sie bei uns zu Hause Schularbeiten gemacht. Weil ihr Vater vierundzwanzig Stunden in der Praxis war, und ihre Mutter da längere Zeit krank war."

"Und wie - wie soll ich jetzt darauf reagieren?"

Pause. Der Direktor kommt vorbei, grüßt und verschwindet am Ende des Flurs hinter der Tür H.

"Ihr das ausreden! Das darf die doch nicht einfach rumlügen!"

Helga - fast fängt sie an zu weinen - die robuste Helga!

"Die hat doch einen Schuß, die olle Zicke!"

"Und das tut dir sehr weh?"

"Ja, sicher!"

"Und macht dich so hilflos?"

"Was soll ich denn tun? Nachweisen, daß ich nicht lesbisch bin? Die Doofe!" Sie schluchzt. "Sie erzählt, ich hätte ihr einen Ring geschenkt. Zur Verlobung, stellen Sie sich das vor! Und sie zeigt den Verlobungsdingsbums rum. So'n Kirmeskram!"

"Nein, das brauchst du dir nicht gefallen zu lassen. - Du kannst jetzt, glaube ich, nicht in den Unterricht zurück. Weißt du, was? Ich sage Birgit bescheid, die kommt zu dir raus. Und wenn du dich noch so schlecht fühlst, geht ihr beide zu eurer Klassenlehrerin. Die hab ich gerade im Konferenzzimmer gesehen. Die hat wohl eine Springstunde. Und ihr erzählt ihr das alles. Und ich rede nach der Stunde mit Hertha und geh mit ihr zu Frau Meyer. Es ist wohl besser, wenn sie nach Hause geht. Darüber müssen wir mit ihr sprechen." Sie tätschelt das Mädchen leicht an der Schulter. Soll ich sie umarmen, die verschreckte Große? "Okay?"

Eine 5er Klasse zieht vorbei, zum Medienraum, fünf Minuten nach dem Schellen. "Frau, Langer, Frau Langer! Warum summt die Biene?" -??- "Mus! Frau Langer! Mus! Mus!" "Weil sie rückwärts fliegt." "Oder weil sie den Text vergessen hat." "Ab mit euch! Euer Lehrer schließt gleich die Türe vor eurer Nase."

Päuschen zum Verschnaufen. Helga steht immer noch da.

"Bevor die Hertha in der Klinik war, hat die auch schon so'n Scheiß erzählt. Sie fahre jede Woche mit Bernd ins Kino nach Dortmund und hätte ihm in einer table-dance-Bar vorgetanzt, und was nicht alles dafür kassiert hat! Alle Jungs - ach, Gott! Dem David hat sie - das kann ich gar nicht sagen. Das wissen aber alle. Fragen Sie den Bernd mal! Da beömmeln sich alle drüber!"

"Ja, ich kann mich an so Geschichten erinnern, teilweise. Aber, wie fühlst du dich jetzt? Geht es wieder?"

Helga schnieft in ein Taschentuch. Dann nickt sie, schief lächelnd: "Schon gut! - Aber die Doofe hat auch gehascht, gleich nach der Klinik wieder. Die hätten die gar nicht laufen lassen dürfen. Der Vater ist da mit 'nem Rechtsanwalt hingefahren und hat das Töchterchen rausgeholt. Weiß der Teufel warum! Und der ist Arzt, der Mann! Ein deutsches Arschloch! Was die Hertha mir früher erzählt hat. Wenn das nicht Mißbrauch ist! Und gekokst wie verrückt hat sie zuletzt! - Da muß man ja durchdrehen! Oder was meinen Sie?"

Frau L. fährt verlegen mit rechts über Helgas Haar:

"Ich glaub, du hast recht. Du, Abhängigkeit oder Sucht, das hat viele Gründe, tief im Inneren der Familie verborgen. Wahrscheinlich fühlt sie sich ungeliebt - und sucht sich Ersatz, irgendwie... Sie hat ja auch von dir Liebe gesucht, in ihrer Phantasie."

"In ihrer Wahnvorstellung, eher."

"Ja, genau, das ist das bessere Wort. Und daran hast du auch keine Schuld! Kannst du gar nicht schuld sein! Da darfst du dir keine Vorwürfe machen."

Dann betritt sie die Klasse flüstert kurz mit Helgas Freundin und bittet sie freundlich nach draußen.

Vor den Fenstern erbricht der Magnolienbaum seine Tulpenblüten ins Blau des Himmels. Frau L. atmet tief ein. Sie fühlt mit der rechten Hand ihren Bauch schwer atmen. Im Schrecken  - irgendwie Rilke, oder? - ein Quäntchen Schönes entdecken!

Sie nimmt den Lesetext der Hausaufgabe nur aus der Ferne wahr: "Dann wird unser deutsches Volk der Granitblock sein, auf dem unser Herrgott seine Kulturwerke an der Welt aufbauen und vollenden kann. Dann wird auch das Dichterwort sich erfüllen, das da sagt: 'An deutschem Wesen wird einmal noch die Welt...'"

"Und bitte weiter, Theodor?"

"'Nun erhebe ich mein Glas mit dem Wunsche, daß Gottes Segen auf der alten westfälischen roten Erde ruhen möge und auf allen ihren Bewohnern, daß es mir (und allen Verrückten) vergönnt sei,...'" - "Du, das steht da aber nicht! Junge!"

"Können wir ja reinschreiben."

"Ja, steht ja immer drübergeschrieben, was der Lehrer hören will!" - "Dann reißt die Seite raus!"

"Raus?"

"Au, au, jetzt fängt' se an, Mrs. Keating zu spielen."

Jemand, leise: "Die spielt nicht. - Da ist keiner, der der die Regie macht -"