Story
2
Anton
Stephan Reyntjes
Der
Farben Lust und Last
Schulszene:
Oberstufenkurs: Auf den Tischen liegen überall die gleichen Taschenbücher:
Alfred Andersch: „Sansibar oder der letze Grund“
Jörg
(hat den Roman aufgeschlagen in der Hand:) Ist das denn da vielleicht
metaphorisch gemeint?
Lehrerin
Pauen: Was meinen Sie, Jörg? Können Sie den Zusammenhang noch mal aufzeigen?
Jörg:
Lehrerin
erzählt (Rückschau:)Ich glaubte, die erste Szene des Gregor, des
kommunistischen Parteigängers auf Abruf, schon abschließend zusammengefaßt und
erledigt zu haben, zwei Minuten vor halb zwölf: Ein Mann vor Rerik, an der
Ostsee, von wo aus noch ein Weg in die Freiheit führen könnte: nach Sansibar
oder anderswo, z.B. den Mississippi hoch! Mit dem Rad unterwegs, er macht Pause;
derweil für ihn der personale Autor den Himmel beschreibt; was soll's? Sein
Parteiauftrag wartet auf ihn. Will er ihn noch erfüllen?
*
Eine
Schülerin spricht mich an, nach Jörgs Beerdigung, die nach dem Willen der
Eltern in aller Stille abgelaufen war, "ohne schulischen Zirkus,
bitte": "Meinen Sie denn, der Jörg sei nur so vom Rad gefallen,
einfach so!?" Pause. "Der war stinkbesoffen. Der hatte mehr Probleme
als Kohle, der blöde Kerl! Daß er vom Rad gefallen ist und dann vom Auto
überfahren wurde, das war Zufall - oder -" sie korrigiert sich, "auch
wieder nicht. Das hat ihm schon sein Vater prophezeit..."
Wie auf das reagieren, Herr Oberlehrer? Versuchsweise so: "Waren Sie
nicht befreundet mit ihm? Ich hab' Sie doch mal mit ihm bei der Lesung mit
Erich Fried im Kunstbunker gesehen."
"Ja,
das war noch okay, aber er trank zu viel, viel zu viel. Zwei- bis dreimal in
der Woche war zu und so was von dicke! Meine Eltern haben ihn dann bei mir
erwischt, morgens, als wir zur Schule mußten und ich mit ihm rausschleichen
wollte. Weil ich ihn doch nachts nicht die Treppe runterjagen konnte!"
"Haben Sie darüber mal mit jemandem sprechen können?" "Mit wem?
Mit einem Lehrer?" Pause. "Und dann war er furchtbar verletzlich. Und
in unserer ersten Zeit konnte er mir ja noch dolle Märchen erzählen, in allen
Figuren, Formen und Farben - die Rapunzel auf dem Kirchturm von St.
Peter." Pause. "Wenn er Geld hatte, nahm er Hasch, später Härteres.
Sonst blieb er beim Alk. Und besoffen von Farben! Der konnte Märchen erzählen,
solange er sprechen konnte, bis er nur noch lallte. Dann erzählte er sich,
glaube ich selber, die schönsten Geschichten im Suff!" Pause. "Einmal
zeigte er mir den Himmel am Abend über Rerik. Seine Lieblingsstadt auf dem Wege
in die Freiheit. Wohin er mit mir wollte! sagte er immer. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen kann
und dennoch aufstehn und fortgehen. Da konnte er mit dem Rad über die
Abendwolken reiten, so in ein paar Sätzen. Der konnte Farben beschreiben, alle
sichtbare und die unsichtbaren! Farben seien das Lächeln der Natur - war seine
Rede. Und beim Trakl fand er alle Farben versammelt. Das Silber für das
Gedankliche und so weiter, ich weiß es nicht mehr. Und das Rot für unsere
-" Sie stockt.
"Da
wurde jeder schöne Abend, der nüchtern anfing, wie zu einem wild glühenden
Himmelfahrtstag bei Raffael oder so ausgekleidet, mit Legenden von Herakles
oder Ödipus. 'Meinetwegen', sagte er dann immer, wenn ich ihn knuffte,
"auch für deinen Jesus, dem Magister aller Regenbögen." Pause.
"Sie
wußten bescheid, wie es um ihn stand? Ist das sonst niemandem aufgefallen?
Seinen Eltern? Und hier an der Schule?"
"Ich
glaube, da konnte ihm niemand helfen."
"Und
wie lange ging das schon?"
"Für
den Unterricht brachte er meistens Entschuldigungen von seinem Hausarzt:
Bronchitis! Aber die letzten zwei Monate war es schlimmer. Von seinen Freunden
lieh er nur noch Geld, bis die ihn rauswarfen. Ich konnte ihn nicht mehr bei
mir reinlassen." Pause. Sie sind jetzt in der Ecke hinter der Turnhalle. "Das
letzte Farbenspektakel - ein Sonnenaufgang vom Balkon des Zeichensaales aus
gesehen, das ich von ihm habe - von dem hat er mir im Stadtpark hinterm
Festspielhaus erzählt. Da machte er die Farben der Landesflagge zu einer Art
stars and stripes. Und dann ist er noch ins lighthouse gefahren, der Idiot. Er
hat mich nicht mal nach Hause gebracht. Und dann hat es ihn auf der
Bahnhofstraße vom Rad gerissen."
*
Und
Jörg fragte energisch nach, als ich die Stunde schon beendet sah: "Ich
meine die Farben des Himmels. Genauso wie die Türme das wachsame Aussehen
dieses Kaffs da an der Ostsee prägen für ihn, den Flüchtling. Könnten die
Farben da auch symbolisch gemeint sein? Weil er doch so naturversessen ist als
Gegensatz zur Parteiarbeit und allem Zwang und der politischen Bindung, äh, ich
meine Bildung. Das ist doch die Bedeutung des goldenen Schildes von Tarasovka,
das ist doch richtig? Und jetzt sieht er Rerik, von wo aus er fliehen will -
schieferfarben und rote Blöcke, eingelassen in das Blau der Ostsee. Seite 20!
Ich meine, kann man das sagen: blau-grau-rot? So wie wir von der Trikolore
sagen: blau-weiß-rot?" Alles lachte. "Hab' ich die Farben vertauscht?
Egal! Sah er schon seine Freiheit, ein bißchen verschwommen noch, heraufziehen,
ganz sinnbildlich? Oder war es der Abschied?"
Der
Lehrer hat mehr gedruckst, als zur Klärung beigetragen: "Können wir das
Problem nicht in der nächsten Stunde noch aufnehmen? Denken Sie dran, Jörg, ja?
Sie melden sich wieder? Ein weiser Chinese hat mal gesagt: Farben sind das
Lächeln der Natur. Also, so weit für heute."
Beim
Hinausgehen knuffte ihn sein Freund, und der enteilende Magister hörte ihn zu
ihm sagen: "Aber, die schwarz-weißen Kühe (Andersch, Seite xy) sind doch
reine Natur - oder siehst du in ihnen die Gegensätze, wie man sagt, als
Schwarzweiß-Malerei von bessener Melkpflicht und Selbstverwirklichung sein auf
einem Ökohof?"
(Solch
einen Freund hätte ich als Schüler
in den kalten Sechzigern haben müssen, ging mir da noch durch den Kopf; jetzt
in die 6. Stunde, Fontane-Ballade vom tapferen John M.; aber meine Gedanken
laufen anderes - eine kleine, fliehende Erinnerung an meine Schule, wo ich das
Abitur machte. Wieder die alte Klasse im Primanerbau vor meinen Augen: "Am
farbigen Abglanz haben wir das Leben" - das fand da gespreizt im Faust
statt, nur auf dem humanistischen Anstaltspapier. Stockdumme Latein- und
Griechisch-Pauker, nur daß sie nicht mehr schlugen wie zu Kaisers Zeiten! Warum
bin ich da noch heute über die verlorene Zeit böse? Und: Mach ich's besser.
Ratschläge seien auch Schläge, meinen sensible Zeitgenossen.)
Jörg
hat sich ausgelacht, unsicher, damals, in den abwehrenden Armen seines
Klassenkameraden, meine ich.
Und
mich hatte die Schelle gerettet.
*
Nichts
war mir aufgefallen, damals - als Jörg ein halbes Jahr lang in meinem
Deutsch-Grundkurs war und ab 11/2 in den Lk überwechselte. „Er kann
interpretieren, daß es eine Lust ist zuzuhören. Aber er muß noch methodisch
arbeiten lernen“, sagte ich einmal beiläufig der Kollegin, die ihn im nächsten
Halbjahr unterrichtete.
*
Dann
hat es ihn nach zwei Monaten schon hinausgeschleudert aus seiner Bahn - über
alle und alles hinweg: Eltern, Freundin, Clique, Kursgruppe, Lehrer.
Auf
seiner Suche nach Farben: Ein Rot, ein
Grün, ein Grau vorbeigesendet...?