Story
1:
Englisch beim neuen Lateinlehrer
Um acht Uhr verkündet. Vom Herrn
Direktor. Ein neuer Lateinlehrer wird euch... undsoweiter.
Gibt’s
doch nur in teuren Privatklitschen so was. Von heute auf Pfingstdienstag!! So Henricus, unser bester Lateiner. Und
Vater spendierte jedes Jahr die dicke Osterkerze! Und würde die Abi-Elternrede
halten.
Wußte kein Lehrer was über den
Neuen? Oder durfte was sagen?
Doch ein wildes Gerücht ging ihm
voraus, wie einem rheinaufwärts Lastkahn die Bugwelle: (Hatte sich das
jemand ausgedacht? Pittje, unser
Internatsfaktotum?): „Der werte Herr verwendet drei Vier-Minus-Zeichen! Wieso
das denn? Ja, in verschiedenen Farben. Eine violette Vier-Minus ist, wenn er
eine Arbeit anheben mußte - das ist dann eine glatte Fünf. Nur um die Arbeit
nicht wieder ansetzen und dann korrigieren zu müssen - du verstehst? Und dann die andere Vier-Minus? Ja, wenn er mal so
gnädig ist, keine Fünf zu setzen. Pädagogik! Cum grano erotis magistri. Da hat er den Spruch: „Gerecht ist nur
die Fünf, so gerecht, mein Sohn. Eine Vier-Minus aber noch human!“ Das gibt’s
nur bei seinen Lieblingen. Und die dritte, tiefrot gekennzeichnete Vier-Minus
war eine glatte Vier. Aber er findet immer was anzukreiden, irgendwas zu
bemeckern. Das passiert ihm bei denen, die er nicht leiden könne...
Ich glaube, diese Hiobskunde kam
von – ja, doch: Albert; der, so wurde gemunkelt, schon mal nachts seine Zeit
mit dem Herrn Assessor verbracht hatte. Erst in der Kneipe, vornehm Wein-Stube
genannt. Aber da konnte man schon mal eins der Mädchen abschleppen. Die taten’s
hinten, im Käfer, auf der Bank. Und das nahm ich mir auch vor. Nach dem Abitur - da kannste da mal
auftreten.
Die Tür geht auf. Der Direktor schaut
kurz herein, wie abwesend, rückt am Horngestell. Und faßt den Neuen sanft, mit
größtmöglichem Abstand, am Ärmel, geleitet ihn zum Pult - und verabschiedet
sich, nicht ohne sein berühmtes „Freunde! Freunde in humanicis!“ zu edieren.
So schritt der Neue, mit dem
komischen Namen Christopheros von Kaniak, an die Tafel; aber Herrschaften, nur Kaniak, Sie verstehen. (Henricus, flüstert:
„Hat ihm beim Direkltor und beim Präses Punkte eingebracht.“; Kaniak hat’s
gespürt, blinzelt rüber zu uns.)
Nahm ein dort korrekt abgelegtes
Stück Kreide - was er lobend erwähnte. „Jede Leistung habe ihren Preis. – Nun,
welches der Leben rettenden Konjunktivi ist es? Ach, heute sei er uns
geschenkt! Heute, noch ein humanes Exerzieren! Jede Leistung verlange nach
ihrem Lob! Danke Ihnen, Pleitgen! Sie sind doch der Tafelwart?- In einer
späteren Stunde werden wir die Modi des Konjunktivus behandeln. Für heute
dies!“ Und er schrieb an die Tafel das Wörtchen „ghoti“
Wir sollten es lesen. Und er ließ
noch drei Namen in die Klasse platzen: Ich glaube, Bauers, Oberpenning und
Hüntzen. Und erhielt mehrere ähnlich klingende, mit Mühe abgewandelte
Vorschläge. „Goti?“
„Es ist ein englisches Wort. Bitte, wer wagt es nochmals?“
„Gotti?“ „Gothi?“
Da war aber der Magister Latinus Rex nicht zufrieden mit
unsern Englischkenntnissen.
„Ist doch Ti-Eitsch, wie? Dann wollen wir dem Fall einmal systematisch zu
Leibe rücken.“
Und er schreib an die Tafel tough.
„Wer liest vor?“ Einer las es: „Taff!“ Und der Neue unterstrich gh = f.
„Und eins weiter, bittschön!“ Und er schreibt women an. Wer liest das und unterstreicht den ersten Vokal?“ Pitter
sprang an die Tafel, las „wimmen“ Und unterstrich o = i! Und ein
drittes mal: Er sprach vor und ließ anschreiben: nation. Und, ich glaube,
Helmut wollte die Lautschrift anschreiben. Und auf Befehl unterstrich er das
„t“ und setzte hinzu: =sch“
„Nun, wer liest das Wörtchen nun?“
Und er zeigte, er hatte inzwischen den Stock auf der Pultkante gefunden, auf
sein Wörtchen „ghoti“. Wir bedurften noch einer Ermunterung. „Mein Herren, das
„gh“ haben wir gesehen: Es bedeutet. „Na? - Sie dort. Mit dem Arm in der
Schlingel!“ (Keiner lachte.) „Gh gleich f!“
„Und bitte, weiter! In der Reihe
links, bitte!“
Einer hatte die Kombination
durchschaut: „Er las fisch!“
Hätte ich auch schaffen müssen!
Blöd so!
"Bravo", spendierte ihm
der Meister den Spruch: „Jede Leistung habe ihren Preis .....“
Und auch ich sah jetzt die
Gleichsetzung: „ghoti“ wurde zu „fish“, wenn man die verrückte Aussprache aus
den drei Beispielswörtern zu Hilfe nahm.
Gravitätisch den Lerneffekt
auskostend, blitzend die Augen über die Köpfe schweifen lassend, beschloß er
seine Einführung: „Sehen Sie, meine Herren, so widersinnig wie die englische
Orthographie ist die lateinische nicht! -
Talkeisen, ah, Junior, gehen Sie
bitte an die Tafel. Äh, ich sehe: Valkeisen! Ja, so! Schreiben Sie Orthographie an. Und erklären Sie das
Fremdwort!“
Gesagt, geschrieben. Aufgezeigt!
Abgehakt!
"Was raschelt der Reinerchens
da mit dem Papierchen. He?"
"Äh, nichts, hab ich gerade
vom Boden aufgehoben."
"Bring es her! Weißt du
gescheiter Infant denn, woher dein Name kommt? Nein? Nicht? Na, aus dem Latei-
"
"Ja, Herr Krah. Dann wohl aus
dem Lateinischen."
"Ein Patronym. Ja, von
Reinarus. Oder Reinerus, meinetwegen! - Aber, was macht der Zettel, soll ich
dem Beine machen?"
Er erhält das Papierchen:
"So, ein Gedicht! Wer ist denn hier der Poet? Na, wird's bald? - Nun? Na?
- - Na! Wenden wir uns dem Opusculum zu! - So, so:
Sollte
ich die Heimat nicht mehr wiedersehn
Und
wie viele Tausend durch den - was steht da? He? Wer hat das geschrieben? So, so! Keiner
will es gewesen schwein, äh, sein!
Lassen wir das. Werden noch die
Wahrheit zu lieben lernen, die Herren dicipuli! - Doch, weiter, noch ein
Pröbchen von dem Schwachsinn:
Seid
gegrüßt, ihr Lieben, in unbekanntem Ort
Gedenket
manchmal meiner, die ich mußte fort!
Das muß doch wohl heißen: der ich mußte fort. Oder? Gibt's
hier im Raum eine femina? Ha! - Dummes Geschreibsel. Oder ist hier einer
lebensmüde? Wißt ja, Freunde:
"Und dann sei unser aller
Herr von Goethe zitiert!“
"Johann - Wolfgang - von
-" (Wer rief da so leise laut...?)
"Ja, sicher. Aber wer ruft
denn hier rein?"
"Mack?"
"Yes, Sir!"
Und er holte ein altes Bändchen,
mit hellbraunem Lederumschlag aus der Aktenmappe. „Dies nun ist mein Goethe,
die "Maximen und Reflexionen" des Weimarer Meisters, in der ersten
vollständigen Ausgabe. Aber das braucht ihr nicht zu wissen! Langer, schreiben
Sie an die Tafel? Bitte, sehr. Ihre Kreide!“
Und er diktierte vergnügt, während wir langsam mitschrieben:
„Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die
Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe,
ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht auch wohl, daß es nur ein
Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit
Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.“
„Fratters, Ihre Physikkenntnisse sind mir als vorzügliche
anempfohlen worden. Können Sie ob der Maxime Goethes eine Methodenreflexion
versuchen?“
Doch band die Überraschung des
besten Schülers naturwissenschaftliches Bedenken und Erkennen.
„Nun. So sehen wir des Späteren
weiter. Und werden vor den abschließenden Übungen darauf zurückkommen. - Und
noch ein Diktat, bitte. Ja, Peters, bitte. Da wartet die Tafel als eine zu
erkennende tabula naturae auf Sie.“
„Bleiben Sie doch beim Ihr.“
Und wir schrieben wieder. Und ich
bedenke es noch heute als Pauker:
„Hypothesen sind Gerüste, die man
vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie
sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude
ansehn.“ „Und schreibt noch davor:
Autor Johann Wolfgang von Goethe.
So viel für heute und bis zu den ersehnten Stunden des Abiturs. - Solche
Erkenntnis harret der Re-Translation in die Mutter
aller Sprachen.“
Henricus II: „Sie meinen Latein?“
Puh!
Erst am Ende der Stunde schaute er
kurz ins Klassenbuch. Er mußte die aufgerufenen Namen im Lehrerzimmer (oder aus
dem Personalbogen) erfahren haben. Nach dem Sitzplan. Gespenstisch, so ein
Gedächtnis! Komischer – äh, avis, der!
Und warum lernen wir nun Latein -
bis zum Großen Abgang...? Weil Männer mit Latein achtzehnhundert Jahre die Welt
beherrscht haben. - Und man im vorigen Jahrhundert drauf aufbauen Computer und so'n
Zeug, mit dem wir Probleme lösen, die wir ohne Computer nicht hätten..
Und wir gingen ein wenig langsamer
als sonst nach dem Läuten nach draußen.
Gerd - hier wärst du dran gewesen;
wenn sie dich nicht schon in der UIII geschaßt hätten, als du nach den großen
Ferien mit einen Ausdruck ankamst: Wenn die Regenwurm in die Pubertät
gekomm-...
*
Armer Avis! Armseliger! Selber, du
armer Vogel du! - Phantasie eines Schülers in einem Kasten für
Priesterzöglinge; in den frühen Sechzigern. Im kühl-einsamen Dunkel einer
Allee-Schattenkapelle ausgebrütet, als ein neuer Pauker, Dr. K. N., Deutsch und
Musik, in die Klasse marschiert kam und so exemplarisch wie möglich die erste
Stunde voll durchpauern wollte. Einfürallemal!
„Wer ist hier der Klassenordner?
Das Klassenbuch liegt an der falschen Stelle! Es muß auf dem Pult liegen. Und
nicht auf der Fensterbank neben der versoffenen Geranie.“ Keiner meldete sich.
„Wer? Los! Muß ich denn da nachkucken?“ – Mustert uns. Noch immer mustert er
uns. Augenrigend starrundsteif! Klappt das Klassenbuch auf. „Hier, da!“ Er
findet einen Namen, bellt: „Ah, ein Antonius, der R.! Wo ist denn der?“
„Aber ich bin nur Klassenbuchführer!“
„So. So heißt das hier - auch noch
gescheit sein wollen - Hat aber keiner gelacht! Wie? – Hat keiner gewagt, ja!“
*
Auf dem Flur. Rennend:
"Heiner! Bleib doch stehn. Wat hasset so eilig?" Packt ihn.
"Na, wat hasse denn? Weinste?
- Wegen dem Papierchen? - Kerl. Heult der einfach! - Was is denn? Toni! Turek
du! - Äh, Liebesbriefchen? - Nä?"
"Hier, der Rest. Hab ich
zerreißen wollen, dat der Neue et nich kriegt!"
"Versteh ich nicht. Wo hasse
dat her?"
"Von mein'm Papa. War ein
Auschwitz-Lied. Von einer, die mein'm Papa sein Onkel kannte."
"Wo denn. Doch nich in - in - Auschwitz selbst!"
"Nä, da in Recklinghausen
oder so -"
"Gibbset mia späta. - Ja? -
Toni!"
Er schluchzt noch.
"Komm, wisch den Schweiß
ausse Äuglein! - sonst glaubt der Jager Hanning noch: "Hellroter
Lungenschweiß! Angeschossener Überläufer! Riech ich doch glatt raus! Muß mal
mittem Hund nachspüren."
Beide grinsen, lachen, schlagen
sich auf den Nacken.
"Siehste! Gezz geh'n wa
fressen. Wa? - Ich riech et schon: Chessman - dead man walking - mit
Kappes!"
"Oweia. Und ich hab keine
Futterage mehr im Schrank."
"Krisse von mia
Plätzkes."
"Die von deina Schwesta?
Auja!"
"Issa datta A-Deklinationa -
?"
"Imma!"
"Idiotata!"
"Datta Fressa wirtta
kalta!"
"Abba, abba!"
"LiebaVatta!"