Anton Stephan Reyntjes

Reyntjes@web.de

 

Story 1:

Englisch beim neuen Lateinlehrer

 

 

Um acht Uhr verkündet. Vom Herrn Direktor. Ein neuer Lateinlehrer wird euch... undsoweiter.

Gibt’s doch nur in teuren Privatklitschen so was. Von heute auf Pfingstdienstag!! So Henricus, unser bester Lateiner. Und Vater spendierte jedes Jahr die dicke Osterkerze! Und würde die Abi-Elternrede halten.

Wußte kein Lehrer was über den Neuen? Oder durfte was sagen?

Doch ein wildes Gerücht ging ihm voraus, wie einem rheinaufwärts Lastkahn die Bugwelle: (Hatte sich das jemand  ausgedacht? Pittje, unser Internatsfaktotum?): „Der werte Herr verwendet drei Vier-Minus-Zeichen! Wieso das denn? Ja, in verschiedenen Farben. Eine violette Vier-Minus ist, wenn er eine Arbeit anheben mußte - das ist dann eine glatte Fünf. Nur um die Arbeit nicht wieder ansetzen und dann korrigieren zu müssen - du verstehst? Und dann die andere Vier-Minus? Ja, wenn er mal so gnädig ist, keine Fünf zu setzen. Pädagogik! Cum grano erotis magistri. Da hat er den Spruch: „Gerecht ist nur die Fünf, so gerecht, mein Sohn. Eine Vier-Minus aber noch human!“ Das gibt’s nur bei seinen Lieblingen. Und die dritte, tiefrot gekennzeichnete Vier-Minus war eine glatte Vier. Aber er findet immer was anzukreiden, irgendwas zu bemeckern. Das passiert ihm bei denen, die er nicht leiden könne...

Ich glaube, diese Hiobskunde kam von – ja, doch: Albert; der, so wurde gemunkelt, schon mal nachts seine Zeit mit dem Herrn Assessor verbracht hatte. Erst in der Kneipe, vornehm Wein-Stube genannt. Aber da konnte man schon mal eins der Mädchen abschleppen. Die taten’s hinten, im Käfer, auf der Bank. Und das nahm ich mir auch vor. Nach dem Abitur - da kannste da mal auftreten.

Die Tür geht auf. Der Direktor schaut kurz herein, wie abwesend, rückt am Horngestell. Und faßt den Neuen sanft, mit größtmöglichem Abstand, am Ärmel, geleitet ihn zum Pult - und verabschiedet sich, nicht ohne sein berühmtes „Freunde! Freunde in humanicis!“ zu edieren.

So schritt der Neue, mit dem komischen Namen Christopheros von Kaniak, an die Tafel; aber Herrschaften, nur Kaniak, Sie verstehen. (Henricus, flüstert: „Hat ihm beim Direkltor und beim Präses Punkte eingebracht.“; Kaniak hat’s gespürt, blinzelt rüber zu uns.)

Nahm ein dort korrekt abgelegtes Stück Kreide - was er lobend erwähnte. „Jede Leistung habe ihren Preis. – Nun, welches der Leben rettenden Konjunktivi ist es? Ach, heute sei er uns geschenkt! Heute, noch ein humanes Exerzieren! Jede Leistung verlange nach ihrem Lob! Danke Ihnen, Pleitgen! Sie sind doch der Tafelwart?- In einer späteren Stunde werden wir die Modi des Konjunktivus behandeln. Für heute dies!“ Und er schrieb an die Tafel das Wörtchen „ghoti

Wir sollten es lesen. Und er ließ noch drei Namen in die Klasse platzen: Ich glaube, Bauers, Oberpenning und Hüntzen. Und erhielt mehrere ähnlich klingende, mit Mühe abgewandelte Vorschläge. „Goti?“

„Es ist ein englisches Wort. Bitte, wer wagt es nochmals?“

„Gotti?“ „Gothi?“

Da war aber der Magister Latinus Rex nicht zufrieden mit unsern Englischkenntnissen.

„Ist doch Ti-Eitsch, wie? Dann wollen wir dem Fall einmal systematisch zu Leibe rücken.“

Und er schreib an die Tafel tough. „Wer liest vor?“ Einer las es: „Taff!“ Und der Neue unterstrich gh = f. „Und eins weiter, bittschön!“ Und er schreibt women an. Wer liest das und unterstreicht den ersten Vokal?“ Pitter sprang an die Tafel, las „wimmen“ Und unterstrich o = i! Und ein drittes mal: Er sprach vor und ließ anschreiben: nation. Und, ich glaube, Helmut wollte die Lautschrift anschreiben. Und auf Befehl unterstrich er das „t“ und setzte hinzu:  =sch

„Nun, wer liest das Wörtchen nun?“ Und er zeigte, er hatte inzwischen den Stock auf der Pultkante gefunden, auf sein Wörtchen „ghoti“. Wir bedurften noch einer Ermunterung. „Mein Herren, das „gh“ haben wir gesehen: Es bedeutet. „Na? - Sie dort. Mit dem Arm in der Schlingel!“ (Keiner lachte.) „Gh gleich f!“

„Und bitte, weiter! In der Reihe links, bitte!“

Einer hatte die Kombination durchschaut: „Er las fisch!“

Hätte ich auch schaffen müssen! Blöd so!

"Bravo", spendierte ihm der Meister den Spruch: „Jede Leistung habe ihren Preis .....“

Und auch ich sah jetzt die Gleichsetzung: „ghoti“ wurde zu „fish“, wenn man die verrückte Aussprache aus den drei Beispielswörtern zu Hilfe nahm.

Gravitätisch den Lerneffekt auskostend, blitzend die Augen über die Köpfe schweifen lassend, beschloß er seine Einführung: „Sehen Sie, meine Herren, so widersinnig wie die englische Orthographie ist die lateinische nicht! -

Talkeisen, ah, Junior, gehen Sie bitte an die Tafel. Äh, ich sehe: Valkeisen! Ja, so! Schreiben Sie Orthographie an. Und erklären Sie das Fremdwort!“

Gesagt, geschrieben. Aufgezeigt! Abgehakt!

"Was raschelt der Reinerchens da mit dem Papierchen. He?"

"Äh, nichts, hab ich gerade vom Boden aufgehoben."

"Bring es her! Weißt du gescheiter Infant denn, woher dein Name kommt? Nein? Nicht? Na, aus dem Latei- "

"Ja, Herr Krah. Dann wohl aus dem Lateinischen."

"Ein Patronym. Ja, von Reinarus. Oder Reinerus, meinetwegen! - Aber, was macht der Zettel, soll ich dem Beine machen?"

Er erhält das Papierchen: "So, ein Gedicht! Wer ist denn hier der Poet? Na, wird's bald? - Nun? Na? - - Na! Wenden wir uns dem Opusculum zu! - So, so:

Sollte ich die Heimat nicht mehr wiedersehn

Und wie viele Tausend durch den - was steht da? He? Wer hat das geschrieben? So, so! Keiner will es gewesen schwein, äh, sein!

Lassen wir das. Werden noch die Wahrheit zu lieben lernen, die Herren dicipuli! - Doch, weiter, noch ein Pröbchen von dem Schwachsinn:

Seid gegrüßt, ihr Lieben, in unbekanntem Ort

Gedenket manchmal meiner, die ich mußte fort!

Das muß doch wohl heißen: der ich mußte fort. Oder? Gibt's hier im Raum eine femina? Ha! - Dummes Geschreibsel. Oder ist hier einer lebensmüde? Wißt ja, Freunde:  

 

"Und dann sei unser aller Herr von Goethe zitiert!“

"Johann - Wolfgang - von -" (Wer rief da so leise laut...?)

"Ja, sicher. Aber wer ruft denn hier rein?"

"Mack?"

"Yes, Sir!"

Und er holte ein altes Bändchen, mit hellbraunem Lederumschlag aus der Aktenmappe. „Dies nun ist mein Goethe, die "Maximen und Reflexionen" des Weimarer Meisters, in der ersten vollständigen Ausgabe. Aber das braucht ihr nicht zu wissen! Langer, schreiben Sie an die Tafel? Bitte, sehr. Ihre Kreide!“

Und er diktierte vergnügt, während wir langsam mitschrieben: „Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht auch wohl, daß es nur ein Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.“

Fratters, Ihre Physikkenntnisse sind mir als vorzügliche anempfohlen worden. Können Sie ob der Maxime Goethes eine Methodenreflexion versuchen?“

Doch band die Überraschung des besten Schülers naturwissenschaftliches Bedenken und Erkennen.

„Nun. So sehen wir des Späteren weiter. Und werden vor den abschließenden Übungen darauf zurückkommen. - Und noch ein Diktat, bitte. Ja, Peters, bitte. Da wartet die Tafel als eine zu erkennende tabula naturae auf Sie.“

„Bleiben Sie doch beim Ihr.“

Und wir schrieben wieder. Und ich bedenke es noch heute als Pauker:

„Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude ansehn.“ „Und schreibt noch davor:  Autor Johann Wolfgang von Goethe. So viel für heute und bis zu den ersehnten Stunden des Abiturs. - Solche Erkenntnis harret der Re-Translation in die Mutter aller Sprachen.“

Henricus II: „Sie meinen Latein?“

Puh!

Erst am Ende der Stunde schaute er kurz ins Klassenbuch. Er mußte die aufgerufenen Namen im Lehrerzimmer (oder aus dem Personalbogen) erfahren haben. Nach dem Sitzplan. Gespenstisch, so ein Gedächtnis! Komischer – äh, avis, der!

Und warum lernen wir nun Latein - bis zum Großen Abgang...? Weil Männer mit Latein achtzehnhundert Jahre die Welt beherrscht haben. - Und man im vorigen Jahrhundert drauf aufbauen Computer und so'n Zeug, mit dem wir Probleme lösen, die wir ohne Computer nicht hätten..

Und wir gingen ein wenig langsamer als sonst nach dem Läuten nach draußen.

Gerd - hier wärst du dran gewesen; wenn sie dich nicht schon in der UIII geschaßt hätten, als du nach den großen Ferien mit einen Ausdruck ankamst: Wenn die Regenwurm in die Pubertät gekomm-...

*

Armer Avis! Armseliger! Selber, du armer Vogel du! - Phantasie eines Schülers in einem Kasten für Priesterzöglinge; in den frühen Sechzigern. Im kühl-einsamen Dunkel einer Allee-Schattenkapelle ausgebrütet, als ein neuer Pauker, Dr. K. N., Deutsch und Musik, in die Klasse marschiert kam und so exemplarisch wie möglich die erste Stunde voll durchpauern wollte. Einfürallemal!

„Wer ist hier der Klassenordner? Das Klassenbuch liegt an der falschen Stelle! Es muß auf dem Pult liegen. Und nicht auf der Fensterbank neben der versoffenen Geranie.“ Keiner meldete sich. „Wer? Los! Muß ich denn da nachkucken?“ – Mustert uns. Noch immer mustert er uns. Augenrigend starrundsteif! Klappt das Klassenbuch auf. „Hier, da!“ Er findet einen Namen, bellt: „Ah, ein Antonius, der R.! Wo ist denn der?“

„Aber ich bin nur Klassenbuchführer!“

„So. So heißt das hier - auch noch gescheit sein wollen - Hat aber keiner gelacht! Wie? – Hat keiner gewagt, ja!“

*

Auf dem Flur. Rennend: "Heiner! Bleib doch stehn. Wat hasset so eilig?" Packt ihn.

"Na, wat hasse denn? Weinste? - Wegen dem Papierchen? - Kerl. Heult der einfach! - Was is denn? Toni! Turek du! - Äh, Liebesbriefchen? - Nä?"

"Hier, der Rest. Hab ich zerreißen wollen, dat der Neue et nich kriegt!"

"Versteh ich nicht. Wo hasse dat her?"

"Von mein'm Papa. War ein Auschwitz-Lied. Von einer, die mein'm Papa sein Onkel kannte."

"Wo denn. Doch nich in - in - Auschwitz selbst!"

"Nä, da in Recklinghausen oder so -"

"Gibbset mia späta. - Ja? - Toni!"

Er schluchzt noch.

"Komm, wisch den Schweiß ausse Äuglein! - sonst glaubt der Jager Hanning noch: "Hellroter Lungenschweiß! Angeschossener Überläufer! Riech ich doch glatt raus! Muß mal mittem Hund nachspüren."

Beide grinsen, lachen, schlagen sich auf den Nacken.

"Siehste! Gezz geh'n wa fressen. Wa? - Ich riech et schon: Chessman - dead man walking - mit Kappes!"

"Oweia. Und ich hab keine Futterage mehr im Schrank."

"Krisse von mia Plätzkes."

"Die von deina Schwesta? Auja!"

"Issa datta A-Deklinationa - ?"

"Imma!"

"Idiotata!"

"Datta Fressa wirtta kalta!"

"Abba, abba!"

"LiebaVatta!"

 

 

 

zurück zur Hauptseite