Stenbock-Fermor, Alexander Graf

(Ps. Peter Lorenz)

30.01.1902. Schloß Nitau bei Riga + 8.5.1972 Düsseldorf.

 

Gebundene "betende Hände"?

Verursacht "Beten" Hilflosigkeit? Unfähigkeit zu helfen?

Originaltext einer Reportage:

Neben dem Hauptgebäude steht ein kleineres Haus, die «Geschlossene Abteilung», ein Sonderheim für Schwererziehbare. Hier sind Fenster und Türen mit Gittern versehen. In der Geschlossenen Abteilung werden zeitweilig Mädchen untergebracht, die «durch häufige Entweichung, dauernde Fluchtgefahr, erhebliches Versagen in einer ihnen vermittelten Stellung usw. die Gemeinschaftserziehung stark gefährden.» Man will diese Mädchen für einige Zeit von den anderen trennen, damit der schlechte Einfluß ausgeschaltet wird. Die ungünstige Einwirkung eines Außenseiters kann jahrelange erfolgreiche Erziehungsarbeit zerstören. Die Einrichtung der «Geschlossenen Abteilung» stellte sich als notwendige Schutzmaßnahme heraus.

Das Leben in dem Sonderheim spielt sich genau so ab wie in dem Hauptgebäude. In der Tageseinteilung und in der Art der Arbeit, in der Einrichtung der Zimmer bestehen keine Unterschiede. Auch ein besonderer eingeschlossener Spiel- und Turnplatz ist am Haus. Der Unterschied liegt nur in der Isolierung. Die Mädchen müssen hier Anstaltskleidung tragen, im Gegensatz zu den anderen, die tragen dürfen, was sie wollen.

Das ist die Methode der «Strafe»: zeitweilige Überführung in die Geschlossene Abteilung und die damit verbundene Entziehung der Vergünstigungen. Andere Strafen gibt es nicht. Jede körperliche Züchtigung ist auf das allerstrengste verboten. Eine Erzieherin, die auch nur eine Ohrfeige verabfolgt, würde sofort entlassen werden.

Die Mädchen in der Geschlossenen Abteilung machen einen verbitterten, bedrückten Eindruck. Als wir eintreten, sitzen sie an einem großen Tisch bei der Näharbeit. Sie erheben sich schweigend, den Kopf gesenkt, niemand sieht auf.

Im Hauptgebäude finden wir freundlichere Gesichter. Wir kommen zu der «Familie» der 14jährigen Mädchen, die von ihren Vätern vergewaltigt wurden. Ihre Kinderkörper haben überreife Formen. Im Gegensatz zu den kindlichen Worten und Gebärden ist der Ausdruck ihrer offenen Augen hart, wissend.

Der Leiter der Fürsorgeanstalt, ein evangelischer Pfarrer, macht den Eindruck eines aufgeschlossenen Pädagogen. In seinem Schreibzimmer reden wir über Erziehungsprobleme.

«Es herrscht in der Öffentlichkeit oft nur eine unklare Vorstellung von der Fürsorgeerziehung. Ihre Einrichtungen und Methoden stehen ja in letzter Zeit unter dem starken Eindruck scharfer öffentlicher Kritik. Noch nie hat die Fürsorgeerziehung so sehr im Mittelpunkt des Interesses gestanden wie heute.»

"Sie kennen ‘Lampels Revolte im Erziehungshaus’?"*

"Ja, ich muß sagen, dieses Stück hat mich tief erschüttert. Wir sind mit den Erzieherinnen hingegangen. Natürlich übertreibt Lampel, doch werden wir wohl in manchen Fürsorgeanstalten noch große Mißstände bestehen. Ich begrüße die Anklage Lampels, er stellt ein wichtig" Problem in die öffentliche Diskussion. Das Gewissen der Menschen kann nicht genug geschärft werden, besonders bei uns Erziehern.

Aber sie ahnen auch nicht, mit welchen Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben. Die Kritik sollte sich nicht nur mit den Mängeln des Fürsorgesystems beschäftigen, sondern mit den unmenschlichen sozialen Notzuständen. Die Mädchen sind doch nur unglückliche Opfer dieser Verhältnisse. »

«Sie sehen also in Ihren Zöglingen nicht ‘Schuldige’, sondern Opfer unserer heutigen Gesellschaftsordnung?»

«Ich möchte sagen: Der Gedanke an Strafe, Vergeltung, Demütigung, Herabsetzung, die Idee der "Zwangserziehung" ist überwunden und wird von uns entschieden abgelehnt. Der fürsorgliche und erzieherische Gedanke steht im Vordergrund. Ich hoffe, daß nicht mehr lange der Makel bestehen bleibt, der bisher auf jedem lastete, der einmal (Fürsorgezögling) war.

* "Revolte im Erziehungshaus" von Peter Martin Lampel (1894-1965) wurde am 2. Dezember 1928 im Berliner Thalia-Theater uraufgeführt und in der Folge kontrovers diskutiert.

Ein Text - Sie werden es an der Erwähnung Lampels vermuten - aus den frühen 30er Jahren. Wir erleben hier einen Pfarrer, einen evangelischen, der ein offensives Verständnis von Sozialpädagogik hat. Der sich aufrütteln läßt, durch das Schicksal der von Fürsorgeerziehung betroffenen Jugendlichen - und auch durch ein Theaterstück, das damals in Deutschland für Furore sorgte.

Der Autor ist ein Schriftsteller, der völlig vergessen ist: Alexander Graf Stenbock-Fermor, der 1930 durch Deutschland reiste und soziale und wirtschaftliche Brennpunkte besuchte.

Ja, es gibt Menschen, die sich durch ihre religiöse Bindung nicht die Hände binden lassen. 1931 war es ein "roter" baltischer Graf, der einen Pfarrer besuchte, der mit seinen Erzieherinnen ein Hilfsprogramm für Mädchen leitete, die vom § 63Nr. 2 bedroht waren: "’sittlich’ gefährdete oder ‘verwahrloste’ Mädchen".

Aus: A. Stenbock-Fermor: Deutschland von unten. Reisen durch die proletarische Provinz 1930. (zuerst 1931); Ausgabe Luzern und Frankfurt 1980. S. 31.

Im Interview:

Der Pfarrer:

"Streng verpönt ist die früher weithin übliche bloße (‘Beschäftigung’ der Mädchen mit oft sinnloser Arbeit, womit man sie allmählich an die Arbeit ‘gewöhnen’ wollte, die sie bis dahin verachteten. Heute weiß man längst, daß nur sinnvolle, zielbewußte Arbeit Freude macht und daß nur mit Lust und Liebe geleistete Arbeit den Menschen bildet und erzieht. Deshalb legen wir großen Wert auf die geordnete Ausbildung der Mädchen in allen Zweigen der Haushaltung.»

«Ihre Anstalt ist von der Inneren Mission eingerichtet. Vermutlich versuchen Sie doch die Mädchen religiös zu beeinflussen. Wie sind da die Resultate?»

«Sie können sich denken, daß wir nur mit Vorsicht und ohne Aufdringlichkeit eine religiöse Beeinflussung wagen dürfen. Gerade die Mädchen, die sehr fromm tun und alle kirchlichen Veranstaltungen mitmachen, sind mir recht unsympathisch, denn es steckt immer Heuchelei dahinter. Die anderen, die sich zurückhalten, sind jedenfalls ehrlich, und das ist mir natürlich viel lieber. Offen gestanden, die religiöse Beeinflussung der Mädchen ist ziemlich hoffnungslos!»

«Läßt sich das durch ein ‘proletarisches’ Abwehrgefühl erklären? Ich meine das so: im Proletariat wird die Kirche als eine Institution der herrschenden bürgerlichen Gesellschaft angesehen, einer Ordnung, die hassenswert und bekämpfenswert erscheint. Die Geistlichen gelten als Klassengegner. Glauben Sie, daß dieses proletarische Klassenbewußtsein auch in den Mädchen irgendwie lebendig ist?»

(Ja, wenn auch nicht so bewußt, wie Sie vielleicht meinen. Die Mädchen sind politisch völlig ahnungslos und gleichgültig. Aber im Unterbewußtsein wird wohl dieses proletarische Mißtrauen stark mitwirken. Sie verstehen, wie mir diese Dinge als Pfarrer am Herzen liegen. Als Christ bemühe ich mich, religiös zu wirken, und es ist niederdrückend, seine Ohnmacht eingestehen zu müssen.»

«Noch eine Frage, bitte: Ist die Homosexualität in der Anstalt verbreitet?»

«Sie kommt vor. Bei den gemeinsamen Schlafräumen wird es sich nie ganz vermeiden lassen. Doch wollen wir in Zukunft immer mehr die Einzelzimmer einführen. Zunächst fehlen freilich die Mittel dazu.»

«Sie sprachen vorhin von der Schwierigkeit der Erziehung. Wahrscheinlich werden die Mädchen erst dann der Fürsorge übergeben, wenn es eigentlich schon zu spät ist?»

«Ja, Sie haben ganz recht, hier liegt das eigentliche Problem der Fürsorge! Selbst ihre beste Methode, der reinste Wille zum Helfen stehen vor fast unüberwindlichen Widerständen. Die Mädchen kommen in der schlimmsten Verfassung, die sich nur denken läßt, zu uns. Sie kommen gegen ihren freien Willen in die Fürsorge, meist auch gegen den Willen der Eltern. Sie wissen ja, welchen Klang das Wort ‘Fürsorge’ in der Öffentlichkeit hat, besonders im Proletariat. Die Mädchen sind ohne Liebe groß geworden, ohne Halt, in ungesunden, menschenunwürdigen Verhältnissen. Es gibt Wohnhöllen, wo in einem einzigen stinkigen Zimmer eine 10- bis 12köpfige Familie haust. Von klein auf werden die Kinder an die gröbsten Häßlichkeiten und Gemeinheiten des Lebens gewöhnt. Bei uns leiden dann die Mädchen unter Minderwertigkeitsgefühlen, unerklärlichem Stimmungswechsel, unberechenbaren Launen, einem grenzenlosen Mißtrauen. Viele haben ein bestimmendes Erlebnis gehabt, eine entsetzliche Erfahrung, die das ganze Leben nachwirkt und die normale Entwicklung stört. Denken Sie an die Mädchen, die in ihrer frühesten Kindheit von ihren Vätern geschlechtlich mißbraucht wurden!

Wo soll das Vertrauen zu den Erzieherinnen herkommen, der Glaube an andere Menschen? Wie kann selbst die hingebungsvollste Arbeit der Fürsorgerinnen die Dumpfheit, Unlebendigkeit, Zerrissenheit, die inneren Hemmungen und Abhängigkeiten der Mädchen lösen? Die seelischen Zerstörungen in den Kinderjahren können nie wieder ganz geheilt werden.»

Betende Hände - nein, kein Hinderniss für aktive Religion, für praktiziertes Mitleid, für Erkenntnis über Ursache und Zusammenhänge bei wirtschaftlicher Not und fehlender Erziehung. Denken, Zuhören, Beten und Helfen - eine Viereinigkeit, die alle Dreieinigkeit zu einem theoretischen Luxus werden läßt, wenn sie nur nach dem "Göttlichen" sucht - und das ohne Reflexion über die Geschichtlichkeit aller Gottbegreifungsversuche und missgriffe - und den Menschen

In Deutschland sind solche Christen selten - in Limburg sitzt ein solcher Mensch und Priester und Bischof auf einem Stuhl, den er nicht benutzt, um Moral zu predigen, theolokratische Obsessionen zu pflegen, Ratsuchende vor den Kopf zu stoßen: Franz Kamphaus.

*

(in Bibliogr. Kalenderblätter., Folge 5)1973; J. Barckhausen, vgl. Schriften. 1973; F. Hammer. Der rote Graf, (in: NDL 23, 1975. F. Fahrtmann (Schriften in: 1931 bzw. 1980; Lex.dt.sprach. Schriftsteller. 2o. Jh. (hg. Von K. Böttcher u.a.). 1993. G. Gerwolls: Wer war wer in Meckl.-Vorpomm.? 1995.


Bibliographie:

Stenbock-Fermor, Alexander Graf

geb. 30. 1. 1902 in Nitau (Livland) gest. 8. 5. 1972 in Düsseldorf

Freiwilliger d. Balt. Landeswehr. 1920 Übersiedlung nach Deutschland, Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Ab 1929 freier Schriftsteller und Filmautor, Verf. von Hörspielen. 1945/46 Oberbürgermeister von NeuStrelitz.

Meine Erlebnisse als Bergarbeiter. 208 S. Stg: Engelhorn (= Lebendige Welt) (1928)

Freiwilliger Stenbock. Bericht aus dem baltischen Befreiungskampf. 237 S. Stg: Engelhorn (= Lebendige Welt) 1929

Deutschland von unten. Reise durch die proletarische Provinz. 159 S. m. Abb. Stg: Engelhorn 1931

Das Haus des Hauptmanns von Messer. Erzählung. 71 S. Wuppertal: Plaut 1933

Schloß Teerkuhlen. Eine Heidegeschichte. 214 S. m. Abb. Braunschweig: Vieweg & Sohn 1942

Henriette. Erzählung. 203 S. Bln: Allg. Dt. Verl. 1949

(Hg.) H. Poelchau: Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, aufgez. v. A. St.-F. 151 S. Bln: Verl. Volk und Welt 1949

J. Barckhausen und A. St.-F.: Semmelweis, Retter der Mütter. Ein Film. 157 S. Bln: Dt. Filmverl. 1950

(Mit-Verf.) H. Kamnitzer und A. St.-F.: Mord an Rathenau. Ein Fernsehfilm. Bearb. nach dem Drehbuch. 68 S. m. Abb. Bln: Henschel 1962

Der rote Graf. Autobiographie (M. einem Epilog von J. Barckhausen). 511 S. m. Abb. Bln: Verl. d. Nation 1973

 

In Anthologien:

 

St. -F.: (Erzählung, Titel unbekannt). In: 33 neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa. Hrsg. v. Wieland Herzfelde. Berlin 1932: Malik-Verlag. S. ??

St.-F.: (Erzählung/Text....?). In: In unserer Sprache. Anthologie des Deutschen Pen-Zentrums Ost und West. Eine Autographensammlung hrsg. v. Ingeborg Kretzschmar. 2 Bde. Berlin 1962: Verlag Der Nation. S. ??