Balten-Porträt

(Fast) Vergessene Texte baltischer Dichterinnen und Dichter

Ein Text, wenn sie ihn zuordnen müßten - könnten Sie auf diesen Autor tippen:

Siegfried von Vegesack:

ARBEITSLOSE VOR DIE FRONT!

Ja, hätten wir endlich wieder ein Millionenheer

mit Kanonen, Tanks, Maschinengewehren und Granaten,

dann hätten wir keine Arbeitslosen mehr, -

denn Arbeitslose in Uniform nennt man Soldaten.

Auch Wirtschaft und Industrie würden sich wieder heben.

Am rentabelsten sind ja immer die Kriegsgeschäfte.

Das sogenannte freie Spiel der Kräfte

würde sich am nächsten Massenmord ohne Zweifel beleben.

Durch den modernen Gaskrieg würde ganz Deutschland zur Walstatt.

Kurz: wir gehen wieder herrlichen Zeiten entgegen.

Der Stahlhelm rüstet munter zum nächsten Stahlbad:

die einen machen das Geschäft. Die andern bezahlen es mit ihrem Bregen.

So löst sich ganz einfach das Arbeitslosenproblem:

Die Arbeitslosen werden Helden und sterben den Heldentod.

Helden sind billig, bescheiden und bequem:

Helden sind tot. Und brauchen daher kein Brot.

(Textgestalt nach einem Zeitschriftendruck unbekannten Titels. Als Ausriß überliefert. 1931. S. 290; später nicht mehr nachgedruckt)

Dieses Vegesack-Gedicht ist nach seinem Erstdruck 1931 in späteren Jahren nicht mehr erschienen. Neben anderen humanistischen Balladen zu sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen blieb diese Thematik in von Vegesacks Dichtungen nach 1945 weitgehend unbekannt. (Einige Beispiel hat Marianne Hagengruber in die Ausgabe der Vegesackschen Briefe aufgenommen, 1988 bei Morsak in Grafenau erschienen.) Die Zeit nach 45 war nicht so...- weder interessiert an der Vorzeit noch an den vorgeblich "tausend Jahren" des Nazitums selbst. Und Vegesack konnte ab 1950 nur noch Vergnügliches, Unterhaltsames, Unpolitisches erscheinen lassen. Sein Kampf (allein oder in Gesellschaft mit vielen demokratischen Mitstreitern) gegen soziale Mißstände und den nationalen Irrwitz, der ab 1933 sich eine vorgeblich staatlich legitimierte Form verschaffte, war vergeblich gewesen... - so daß wir noch heute davon profitieren können, wenn wir uns mit heutigen Politforderungen und Urschreischmerzen nach einer (deutschen - oder klammheimlich bayerischen) Leithammel-Kultur auseinandersetzen müssen.

Davon unabhängig können wir uns hier mit Vegesacks Text zu der Arbeitslosenproblematik die Frage stellen, ob es einer demokratischen Gesellschaft ansteht, junge Menschen nicht in Arbeit und Brot und auf die Teilnahmemöglichkeit an sozialen Sicherungssystemen zu setzen, wenn sie in ihren äußeren Bedingungen nicht beeinträchtigt sein will. Psychologisch gesehen ist es eine Selbstverständlichkeit, daß junge Menschen arbeiten und lieben lernen müssen, wenn sie erwachsen, verantwortlich und gesellschaftsfähig werden wollen und sollen... Den politischen Aspekt einer solchen hartleibig uneinsichtigen Gesellschaft, die nicht ihre materiellen Möglichkeiten und sozialen Chancen mit der Jugend - ihrer redensartlichen Zukunft - zu teilen bereit ist, hat uns schon von Vegesack vor 1933 vermittelt... Kriminelles und (oder) nationalistisch-biologistisches Gehabe junger Menschen ist ein Schrei nach Liebe und Anerkennung in soziale Teilhabe. Wir sollten den Ursachen von krass abweichendem Verhalten nachgehen - und ins Zentrum unserer sozialen Vorstellungen, auch unserer grundgesetzlichen Verpflichtungen, finden. Von Vegesacks weitsichtiges Gedicht mag uns dazu auffordern.

*

Zur Biografie:

20. 3. 1888 Gut Blumbergshof bei Valmiera (Wolmar)/Livland, † 26. 1. 1974 Burg Weißenstein bei Regen.

Romancier, Erzähler, Übersetzer. Nach dem Abitur in Riga 1907 hatte V. in Dorpat das Studium der Geschichtswissenschaften aufgenommen, war der schlagenden Verbindung Livonia beigetreten u. hatte bei einer Mensur ein Auge eingebüßt. Doch gehörte er nie zu jenen Burschenschaftern, die dem Nationalsozialismus den Weg ebneten: Das Verlangen der Reichsschrifttumskammer nach einer schriftlichen Erklärung, »stets für die Deutsche Dichtung im Sinne der Nationalen Regierung« einzutreten, lehnte er ab; schon 1920 war er in der »Weltbühne« gegen antisemitische Tendenzen vorgegangen, u. als die NS-Zeitschrift »Wille zum Reich« 1937 von ihm einen Widerruf verlangte, weigerte er sich. Dabei bedeutete »deutsch« zu sein für V., der als Balte bis 1918 die russ. Staatsbürgerschaft besessen hatte, keine Selbstverständlichkeit.

Die sozialen u. ethnischen. Spannungen, die sich im Baltikum aus dem Verhältnis zwischen herrschendem Adel u. unterdrücktem Volk sowie aus der Abhängigkeit des dt. Adels von der russ. Regierung ergeben hatten, beherrschen die "Baltische Tragödie" (Bln. 1936), die V. zum Thema seines Erzählwerks wählte.

Er beschrieb darin den Untergang einer Kultur, die V. ungeachtet der Problematik des Kolonialismus geliebt hatte. "Blumbergshof" (1933), der erste Teil seiner Trilogie, schildert auf der einen Seite das Herrenhaus u. die »Herren«, eingeschlossen die »Jungherren«, zu denen er selbst gehörte, u. auf der anderen das »Gesinde«, die abhängigen Leute. Der »Großherr«, der Vater, regiert seinen Hof wie ein Fürst: »Einmal hatte Aurel gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand küßten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar.« Mit den Analytikern der Zeit u. den sozialen Verhältnissen kam V. kaum in Berührung. Die politische Entwicklung in Deutschland blieb ihm ebenso unbegreiflich wie die Nachrichten über die lettischen, estnischen, dann russischen Revolutionen 1905 bis 1907: »Das Reich ist in Aufruhr. Aber in Blumbergshof [...] ist es noch ruhig. Wenn der Postbote nicht jeden Mittwoch und Sonnabend mit den Zeitungen käme, wüßte man gar nicht, was alles da draußen geschieht. Und es geschieht Unglaubliches«, heißt es im zweiten Band der Trilogie mit dem problematischen Titel Herren ohne Heer (1934).

Das Deutschtum im Baltikum wird gewaltsam beseitigt; den Überlebenden bleibt die Wahl zwischen Russifizierung oder Übersiedlung nach Deutschland. V. entschied sich für Deutschland, wo er sich nichts anderes wünschte »als ein Stückchen Erde, nicht mehr, als man selbst mit zwei Händen bebauen kann«. Er fand es rund um den Weißensteiner Burgkasten. Der »Turm« wurde ihm zur neuen Heimat, zur lebenslangen Wirkungsstätte, die ihm das Herrenhaus Blumbergshof ersetzen mußte.

1936-1938 u. erneut 1959 u. 1960 reiste V. nach Südamerika, wo er auf Menschen traf, die er dort nicht vermutet hatte: auf Wolgadeutsche schwäbischer Abkunft, die am Rio Paraná eine neue Heimat gefunden hatten. Zurückgekehrt, veröffentlichte V. sein Südamerikanisches Mosaik (Mchn. 1962) u. den Roman Die Überfahrt (ebd. 1967), Dokumente der Heimat- u. Identitätssuche u. wie Jaschka und Janne.

Baltische Erzählungen (ebd. 1965), ebenso einfühlsame Reisebücher ("Südamerikanisches Mosaik". 1962).

Auf Burg Weißenstein in Niederbayern, bei Regen, wo er im 31. Lebensjahr sein der Natur und der Verinnerlichung zugewandtes Leben begann, wurde V. zum scharf beobachtenden Volkskundler, der das Leben der Menschen seiner Umwelt beschreibt, ihre Armut und ihren harten Alltag, ihre Bräuche, Sagen u. Legenden, u. er entwickelte sich darüber zum meisterlichen Erzähler. Niemals wurde er laut oder pathetisch; ein feiner Humor überglänzt nicht nur viele seiner Erinnerungen, sondern führte auch zu humoristischen Veröffentlichungen, unter denen das Tierbuch "Spitzpudeldachs" (Berlin 1936) und "Schnüllermann" (Mchn. 1953), ein Jedermanns-Buch, herausragen. Menschenschicksale interessierten ihn jedoch am meisten, u. es gelang ihm, sein eigenes Geschick mit den Schicksalen der Menschen seiner Umgebung zusammenzusehen und zu verweben.

Weitere Werke: "Das fressende Haus". Berlin. 1932. - "Soldaten hinterm Pflug. Ein Erlebnisber. aus dem Osten". Ebd. 1944. - Der Pfarrer im Urwald. Eine Novelle. 1947. - "Der Pastoratshase. Altlivländische Idyllen". Ebd. 1957 und 1983. - "Vorfahren und Nachkommen. Aufzeichnungen aus einer altlivländ. Brieflade. 1667-1887". Ebd. 1960 und 1981. - "Als Dolmetscher im Osten. Aufzeichnungen aus Rußland". Hannover. 1965. - "Die Welt war voller Tanten". Heilbronn. 1970/1987. - "Briefe". Hrsg. v. Marianne Hagengruber. Grafenau 1988 (mit Kurzbiogr. u. Bibliogr.).

Übersetzungen: Nicolaj Leskov: Lady Macbeth v. Mzensk. Bln. 1921. - Ders.: Der Mensch im Schilderhaus u. a. Geschichten. Ebd. 1922. Vladimir Nabokov: "König, Dame, Bube". Ebd. 1930; als Neuauflage im Jahre 1959 im Taschenbuch bei rororo Bd. 353.

Literatur:

Bibliographie : Franz Baumer: S. v. V. Heilbr. 1974. - Dietz-Rüdiger Moser: "Auf der Suche nach Heimat u. Identität. Zum 100. Geburtstag S. v. V.s". In: Literatur in Bayern. 12. 6. 1988, S. 46-51. C.L. Gottzmann (1998): Siegfried von Vegesack. Die baltische Tragödie in Aurel von Heidenkamp. In: Studien zu Forschungsproblemen der deutschen Literatur in Mittel- u. Osteuropa. Hrsg. C.L. Gottzmann u. P. Hörner. Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 187-204. - Koschmal, Walter (1999): "Zwei Wege der russischen Emigration in Deutschland. Vladimir Nabokov und Siegfried von Vegesack". In: Festschrift für Klaus Trost zum 65. Geburtstag, hrsg. von E. Hansack, W. Koschmal, N. Nübler, R. Vecerka. München 1999. (Die Welt der Slaven. Sammelbände. Sborniki Bd. 5). 151-170.

[Bibliografie nach Dietz-Rüdiger Moser, für die Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 21258; vgl. Killy. Bd. 12, S. 9 ff.; ergänzt um neuere Titel]

*

Ergänzendes Textangebot - ein bemerkenswert engagierter, eigenständiger Beitrag zum traditionsreichen Typus "Christus Redivivus":

Christus in München

Als der Herr Jesus Christus nach München kam

Und gleich beim Hauptbahnhof ein möbliertes Zimmer nahm,

Warf ihn ein Schupo nachts aus dem Bette

Und fragte, ob er auch eine Einreiseerlaubnis hätte.

Der Herr Jesus Christus zeigte auf das Evangelium.

Der Schupo blätterte darin herum

Und sagte: "Dies ist kein Ausweispapier -

Kommen Sie mit auf das Polizeirevier!"

Der Herr Jesus Christus kam auf die Polizei.

Man fragte ihn, wo er geboren, und wer und was er sei.

Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich bin geboren in Bethlehem,

Gestorben auf Golgatha bei Jerusalem;

Der Schreiner Josef war mein Vater, und war es doch nie,

Mein Mutter war Jungfrau und hieß Marie."

Der Schupo fragte ihn: "Sind Sie Christ oder Jude?"

Dem Herrn Jesus Christus war es seltsam zu Mute,

er lächelte und sagte: "Ich bin Jude und Christ!"

Da schrie ihn der Schupo an: "Mensch reden Sie keinen Mist

Und wo wollten Sie denn in Bayern hin?"

Der Herr Jesus Christus sprach: "Ich wollte sehn, wie ich gestorben bin;

Das kann man sich ja jetzt alles genau

bei Euch ansehen in Oberammergau!"

Da hat ihn der Schupo schrecklich angeblickt

Und ihn angebrüllt: "Mensch, Sie sind wohl verrückt!

Nach Oberammergau wollen Sie - Sie?

Das ist doch nur für Christen und unsere Fremdenindustrie!

Aber Sie und die ganze Slawiner- und Judenbande

Schmeißen wir raus aus unserm christlichen Bayernlande!"

Und der Herr Jesus Christus ward zum Bahnhof geführt

Und noch selbigen Tages in einem Viehwagen abtransportiert.

Leider hat man nicht mehr vernommen,

Wohin der Herr Jesus Christus aus Bayern gekommen,

Ob er nach Wien oder nach der Tschechoslovakei,

Nach Jerusalem oder Berlin abgeschoben sei.

Vielleicht, daß man ihn auch gefangen hält

In der Ordnungszelle Niederschönenfeld.

(In Niederschönenfeld waren Protagonisten der Bayerischen Räterepublik gefangen, z.B. auch von Vegesacks Freund Erich Mühsam. Zuerst erschienen in der "Weltbühne", 1923. Hier zitiert nach der Ausgabe der "Briefe" von Vegesacks: Briefe 1914 - 1971. Herausgegeben von Marianne Hagengruber. Grafenau: Morsak Verlag. 1988. S. 74f.)