Balten-Porträts

Keyserling, Eduard Graf von,

Eine Sonntagspredigt

- Auszug aus: Eduard von Keyserlings Novelle: Dumala (1908) -

Pastor Erwin Werner befindet sich zur Sonntagsmesse in seiner Kirche:

Die Sakristei war voller Schneelicht. Zwischen den engen, weißen Wänden, in dem weißen Lichte, sah Pastor Werner, im schwarzen Talare, sehr groß aus. Er saß am Tisch, vor sich das aufgeschlagene Gesangbuch und das Blatt mit den Notizen zu seiner Predigt. Draußen sangen sie schon das Lied, ein Chor harter Frauenstimmen, heiserer Kinderstimmen, dazwischen das Knarren der Bässe. Sie zogen die Töne schläfrig und beruhigt. Gott! spielte der Organist heute tolles Zeug zusammen! Sicherlich hatte der Mann wieder die ganze Nacht durch gesoffen. Die alte Orgel stöhnte und seufzte ordentlich unter seinen rücksichtslosen Fingern.

Werner sang nicht mit. Er schaute zum Fenster hinaus. Es taute und die Sonne schien. Die Bäume hingen ganz voll blanker Tropfen, und das beständige Tropfen vom Dache und den Traufen legte um die Kirche ein helles Blitzen und Klingen.

Sonntäglich! Die Sonntagsstimmung war da, die kam immer, aus alter Gewohnheit, anfangs feierlich, später angenehm schläfrig. Er liebte diesen Augenblick in der Sakristei vor der Predigt, wenn er dasaß und sich voll großer Worte, voll lauter, eindringlicher Töne fühlte.

Er horchte hinaus. Er kannte die Schellen der Schlitten, die heranfuhren. Das waren die Schellen von Debschen, das - der Dr. Braun, das die Schellen von Dumala.

Dennoch fragte er, als der Küster eintrat: "Wer ist alles da?"

Der Küster Peterson legte sein großes, schlaues Bauerngesicht in pastorale Falten.

"Die Dumalaschen sind da", meldete er, »die Baronin und der Sekretär." "Wer noch?" fragte Werner ungeduldig. Warum meldete der Kerl gerade nur die Dumalaschen?

Peterson zog ergeben die Augenbrauen empor: "Der Doktor is da, die aus Debschen."

"Gut - gut." Werner winkte ab. Es war doch ganz gleichgültig, ob der Doktor da war und die Alte aus Debschen!

Nun war es Zeit auf die Kanzel zu steigen, sie sangen da drin schon den letzten Vers des Liedes. Werner freute sich zu finden, daß die Kirche voller Licht war. Wenn die breiten, gelben Lichtbänder durch die hohen Fenster in den Raum fluteten, dann bekam seine Predigt auch anders helle Farben, als wenn die Kirche voll grauer Dämmerung war und der Regen gegen die Fensterscheiben klopfte.

Es roch nach nassen, schweren Wollenkleidern, frischgewaschenen Kattuntüchern und Transtiefeln.

Werner beugte sich über das Pult auf der Kanzel zum Gebet. Dieser Augenblick brachte ihm stets eine sanfte, andächtige Ekstase, so die Stirn auf das Pult zu legen, und unten wurde es still und sie warteten, warteten auf sein Wort.

Die Predigt begann. Die eigne Beredsamkeit erwärmte ihn heute besonders. Er hörte es, wie die Leute unten aufmerksam wurden, wie das Husten und Sichräuspern schwiegen.

Und Werner gab seiner Stimme vollere Töne, machte große, freie Bewegungen. Er wußte es wohl, die meisten dort unten verstanden ihn nicht, aber heute drängte eine innere Erregung ihn, hinauszusagen, hinauszurufen, was ihn bewegte.

"Falle vor mir nieder und bete mich an", sprach der Böse zum Sohne Gottes. "Bete mich an!" ja, das ist es, das will er. Er hat nicht genug mit unseren Sünden der Schwäche, der Nachlässigkeit, der Bosheit, des Unglaubens, nein, niederfallen sollen wir vor ihm und ihn anbeten. Er will angebetet, er will verehrt, er will geliebt werden. Danach dürstet er. Er will, daß wir zu ihm sprechen: "Um dich geben wir die ewige Seligkeit und die Gotteskindschaft hin, dir opfern wir sie, um dich gehen wir mit offenen Augen in unser Verderben, weil wir dich anbeten, weil du uns groß und liebenswert erscheinst, weil wir zu dir wollen." Der Böse will, daß wir die Sünde lieben, daß wir sie anbeten. Das ist sein Triumph. Das ist das tiefe, furchtbare Geheimnis der Sünde." Die Stimme des Pastors hatte hier einen tiefen, geheimnisvollen und leidenschaftlichen Tonfall angenommen, wie eine unheimliche Liebeserklärung an die Sünde klang es.

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So disharmonisch und eigenwillig die Kirchenszene beginnt - sie charakterisiert symbolisch und handlungsmäßig vollendet den jungen, geistig einsamen Pastor in seinen Spannungen zwischen beruflichen Pflichten und erotischen Wünschen: Die lichtvoll-schöne Natur steht im Gegensatz zu den Bedürfnissen und Interessen der Person des Erwin Werner. Die Partie zwischen Predigtstuhl und dem Damensalon im Schloß Dumala ist eröffnet.

Neben Einblick in die gehobene Seelsorge für Adelige erhalten wir solche in die Normal- und Unterlage der evangelischen Schützlinge; Werner erwischt zwei seiner Untergebenen, den Lehrer Gröv und den Küster Sahlit sonntags Nachts in einer verrufenen Kneipe bei der attraktiven Kellnerin Marri.

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"Bravo, Gröv!" rief Werner. "Marri, noch ein Glas. Ihr Lehrer ist ein Mann. Sie wollen gleichmäßige Verteilung der Sünden? Recht haben sie, Mann."

"Das wird auch noch kommen", prophezeite Gröv.

"Gott geb’s", betetet Sahlit verständnislos.

Werner stützte den Kopf in die Hand und wurde nachdenklich.

"Arme Racker!" sagte er vor sich ihn. "Müßt nachts hier hinaus kriechen, um ein bißchen hochmütig zu sein, um bißchen Sozialdemokat zu sein, um zu sehen, ob Marri Zeit hat. Und dann morgen nichts - vorüber"

Er schaut auf, betrachtete nachdenklich die beiden wunderlichen Gesichter seiner Kameraden: "Nun - wißt ihr -, euch wird viel vergeben werden, weil - weil ihr so furchtbar häßlich seid."

So unheimlich präzise, mitleidvoll und gleichzeitig politisch distanziert vernimmt man um die Jahrhundertwende nirgendwo in deutschen Berichten oder Dialogen von den Nöten, Sehnsüchten und Verzweiflungen der Untertanen - wie hier von einem damals in München lebenden Edelmann aus dem baltischen Kurland. Thomas Mann hat den Baron von Keyserling nach dessen Tod hoch gelobt, aber nicht wegen dieser radikalen Einsichten in die Sozial- und Seelenlage, sondern vom Stilistisch-Novellistischen her...

Im Schlußsatz der ergreifenden Novelle, die nicht nur jeder Theologie-Student "auswendig lernen", das heißt in seinem humane-morlaischen Gehalt erfassen und diskutieren sollte, steht von Keyserlings Melancholie so gefaßt:

"Seltsam!" dachte Werner. "Da glaubt man, man sei mit einem anderen schmerzhaft fest gebunden, sei ihm ganz nah, und dann geht ein jeder seinen Weg und weiß nicht, was in dem andern vorgegangen ist. Höchstens grüßt einer den anderen aus seiner Einsamkeit heraus!"

(Aus: E. v. K.: Dumala. In: E.v.K.: Harmonie. Romane und Erzählungen. Hrsg. v. Reinhard Bröker. München 1998: Knaur TB 61109.. 232f.)

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In anderen Texten, in anderen erzählerischen Zusammenhängen finden wir ähnliche Charakterisierungen: so, in der Novelle "Schwüle Tage". Der Ich-Erzähler, ein junger Adeliger, erlebt entsetzt den Freitod seines Vaters und ist sich unschlüssig, ob und wie er ihn betrauern sollte...

Der Pastor kam. Sein rotes Gesicht unter dem milchweißen Haar war bekümmert und verwirrt. Er klopfte mir auf die Schulter, sprach von harter Schickung, die Gott über meinen jungen Jahre verhängt habe, und von Seinen unergründlichen Ratschlüssen: "Der Verstorbene war ein edler Mann", schloß er. "Wir irren alle. Die ewige Barmherzigkeit ist über unser aller Verständnis groß."

(E. v. K.: Schwüle Tage. In: Harmonie. S. 184)

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E.v.K.: 18. 5. 1855 Schloß Paddern bei Hasenpoth (Aizpute) in Kurland,

† 28. 9. 1918 München. - Erzähler, Dramatiker, Essayist.

Aus dem urspr. westfälischen 1492 im Gefolge des Deutschen Ordens nach Kurland gelangten Geschlecht der Keyserling sind viele namhafte Persönlichkeiten hervorgegangen: Offiziere, Diplomaten u. Staatsmänner, auch Gelehrte u. Förderer der Künste. K. wuchs auf in der patriarchalischen Adelsgesellschaft der elterlichen Güter als drittletztes von zwölf Geschwistern; er besuchte die Schule in Hasenpoth u. das dt. Gymnasium in Goldingen (Kuldiga). Aus dem 1874 begonnenen Studium der Jurisprudenz, Philosophie u. Kunstgeschichte in Dorpat wurde er 1877 »herausgerissen wegen einer Lappalie - einer Inkorrektheit« (so K.s Neffe Otto von Taube) und verfiel der gesellschaftlichen Ächtung seiner Adelskaste. Über weitere Studienjahre in Wien (vor 1890) ist wenig bekannt: Im Umgang mit Ludwig Anzengruber hat er wohl die jungen Wiener sozialistischen Kreise berührt. Seine naturalistisch getönten ersten beiden Romane sind Resultate dieser Lehrjahre: Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe (Dresden/Lpz. 1887) u. Die dritte Stiege (Lpz. o. J. [1892]. Neudr. Heidelb. 1985; Nachw. von Fritz Martini) - der erste ein kritischer Spiegel kleinstädtischer Enge, der zweite ein Wiener Sittenbild.

Bis 1895 verwaltete K. - gesellschaftlich isoliert die mütterlichen Güter Paddern und Telsen. Nach dem Tod der Mutter Ende 1894 u. der Übergabe der Güter an die beiden Majoratsherren zog er mit den ebenfalls unverheirateten und literarisch tätigen Schwestern Henriette und Elise 1895 nach München. Als Folge einer Syphilisinfektion brach 1897 das Rückenmarksleiden aus, das schon den 45jährigen zum »alten Keyserling« machte u. ihn 1908 erblinden ließ; die späteren Werke hat er seinen Schwestern diktiert - »in seiner Blindheit voll Gesicht« (Kassner). Von Ende März 1899 bis 1900 bereiste er mit den Schwestern Italien: mit längeren Aufenthalten in Venedig, Florenz, Siena, Rom und Neapel. Nach dem Tod von Henriette (1908) u. Elise (1915) zog eine dritte Schwester, Hedwig, zu ihm u. übernahm in diesen letzten Jahren zunehmender Vereinsamung die Pflege des Bettlägerigen.

K. s Stammtisch war ein Mittelpunkt der Schwabinger Boheme. Hier trafen sich Halbe, Wedekind, Corinth, Kassner, Korfiz Holm, Kubin, Hermann Uhde-Bernays, Peter Altenberg u. andere - nachmittags im Café Stephanie, abends im Weinlokal Torggelstube, im Hoftheaterrestaurant am Max-Joseph-Platz oder bei Kathi Kobus im Simplicissimus. Ein wahres Bild von K.s »phantastischer Häßlichkeit« (Halbe) gibt Corinths Porträt von 1901. Nie zeigte K., wie sehr er litt. »Der Todkranke spielte mit Laune und Grazie jahrelang den Unpässlichen« (Franz Blei). Sein treffsicherer, auch boshafter Witz war legendär u. bewährte sich in Wortgefechten mit Wedekind, der 1902 im Kabarett »Die Elf Scharfrichter« die Hauptrolle in K. s verschollenem Einakter "Die schwarze Flasche"* spielte. Als Kurländer blieb K. zeitlebens russ. Staatsbürger; der Krieg schnitt ihn 1914 von den Einkünften aus seiner Heimat ab u. stürzte ihn in wirtschaftl. Not. Bis zuletzt besuchten ihn, neben den Freunden Halbe u. Kassner, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe (sie hat K. s Erzählung "Schwüle Tage" ins Französische übertragen) u. die Baronin Marie von der Osten-Sacken, die später - mit seiner Schwester Hedwig - nach K. s letztem Willen seinen Nachlaß vernichten half.

Lange nach den beiden frühen Romanen u. erst, nachdem er sich um 1900 in vier bühnenfernen Dramen versucht hatte, fand K. den unverwechselbar psychologischen Ton seiner »Schloßgeschichten«, die wie seine Dramen alle bei S. Fischer erschienen sind. Am Anfang stand "Beate und Mareile". Eine Schloßgeschichte (Bln. 1903), auf den ersten Blick eine konventionelle Dreiecksaffäre in märkischen Junkerkreisen: ein nicht mehr junger Graf zwischen seiner »weißen«, entsinnlichten Frau Beate u. der »roten«, so kultivierten wie leidenschaftlichen, zur gefeierten Sängerin avancierten Inspektorstochter Mareile. Der Ausbruchsversuch des Grafen aus der Dämmerungswelt des Schlosses scheitert im Moment mögl. Gelingens an einer Duellverwundung, die ihn in den scheinbar »hübschen, glatten, tiefen Hafen« seiner Ehe zurückholt; daß dieser Hafen »gut ausgebaggert« sei, »man sieht bis auf den Grund«, dessen ist sich der Leser am Ende nicht mehr so sicher. Motive u. Konstellationen dieser ersten »Schloßgeschichte« werden in fast allen folgenden Erzählungen u. kurzen Romanen abgewandelt, artistisch vervollkommnet, im Blick auf die dargestellte Gesellschaftsschicht kritisch zugespitzt: in den Novellensammlungen "Schwüle Tage" (Bln. 1906) u. Bunte Herzen (Bln. 1909), in Romanen wie "Dumala" (Bln. 1908), Wellen (Bln. 1911. Neuausg. Ffm. 1971; Nachw. von Peter Härtling) u. Fürstinnen (Bln. 1917. Neuausg. 1989; Nachw. von Richard Brinkmann). Die Harmonie in der so betitelten Novelle (aus: "Schwüle Tage". Einzelausg. Bln. 1914) kulminiert im Selbstmord einer hochmütig-todessüchtigen Schloßherrin; sie geht ins Wasser u. bannt ihren Mann nur um so mehr in den Kreis eines Lebens, in dem er sich gefangen fühlte wie in einem »Glasladen«: »Alles hatte hier Nerven, alle Menschen, alle Möbel, alle Blumen.« Zwar wird »das Erotische [...] zur treibenden Kraft des gesellschaftlichen Lebens« (so K. in dem Essay "Über die Liebe". In: Neue Rundschau 18, 1907), aber die Liebesverstrickungen im Roman "Abendliche Häuser" (Bln. 1914) enden im Tod der männl. Erben dieser »abendlichen« Schloßgesellschaft und im Absterben der Töchter in Resignation. Nur die alten Herrschaften richten sich - meist in unbewußt zynischer Parodoxie - in selbstgenügsamer »Behaglichkeit« ein, Wohlsein auf Kosten der Bediensteten und - das ist un-baltisch, un-adelig - auf Kosten der jungen Generation, die nach der Jahrhundertwende im neuen Stand des Wissens, der Ausbildung, der sozialen und psychischen Identität.

K. diagnostizierte die Welt des versinkenden kurländischen und darüber hinaus preußischen Adels vor 1914 in »traumhaft schönen« Bildern von streng ritualisierter Künstlichkeit als eine Sphäre vollkommener Lebensferne. Der enge Bezirk ostelbischer Landsitze dient einem immer gleichen Kreis zgl. lebensgieriger u. lebensunfähiger Akteure als Bühne für ein Spiel, dem sich noch der verzweifeltste, immer vergebliche Ausbruchsversuch als stilvolle Arabeske einfügt. Einer Gesellschaft, welche die »Todesmöglichkeit als Dekoration« genießt, setzt der Hauslehrer Aristides Dorn in der Erzählung "Am Südhang" (Bln. o. J. [1916]. Neuausg. Stgt. 1963 u. ö.) den Selbstmord entgegen, um seiner vergeblichen Liebe im Tod so etwas wie Wirklichkeit zu geben, denn eigenwillig-einmalig, »wirklich zu sein, das ist die Leidenschaft unseres Lebens« ("Über die Liebe"). Der Einwand, K. s Weltausschnitt sei zu eng (Blei: »der nur auf einer Saite konzertierende Keyserling«), trifft den Dichter kaum, da gerade die Verengung seiner Welt, (so K. in dem Essay "Über die Liebe"; in: Neue Rundschau 18, 1907), aber die Liebesverstrickungen im Roman "Abendliche Häuser" (Bln. 1914) enden im Tod der männl. Erben dieser »abendlichen« Schloßgesellschaft u. im Absterben der Töchter in Resignation.

K.s Ironie ist »angstgeschärft« (Gruenter) u. öffnet wo nicht den Akteuren so doch den Lesern die Augen über die Zukunftslosigkeit einer Gesellschaft, die nach der Devise »Aussterben ist vornehm« zu »leben« sucht (so Onkel Thilo in der Novelle Harmonie, der Wert darauf legt, der letzte Reichsgraf zu Elmt zu bleiben). K. s Gesellschaftskritik ist häufig ohne »soziale Attitüde« (wie Thomas Mann in seinem wenig kenntnisreichen Nekrolog auf E.v.K. pauschal behauptet) u. deshalb um so eindringlicher - radikaler als die Fontanes. Genau benannte Sinneseindrücke, Farben v. a., aber auch Gerüche u. Klänge, die Übergänge u. Gegensätze von Hell u. Dunkel, Innen u. Außen, Natur u. Gesellschaft gewinnen bei K. jenseits aller Oberflächenreize eine kritische Funktion u. darüber hinaus - als Schicksalssignale - symbolische Qualität.

Sein symbolischer und zugleich ironischer Impressionismus gibt ihm einen Platz zwischen Fontane und Mann, im europäischen Kontext neben Turgenjew, Tschechow und Bang.

Weitere Werke:

Teilausgaben: Ges. E.en. Hg. Ernst Heilborn. 4 Bde., Bln. 1922. Davon Titelaufl.n in 2 Bdn.: Balt. Romane. Romane der Dämmerung. Bln. o. J. [1933]. - Schwüle Tage u. a. E.en. Hg. Otto v. Taube. Zürich 1954. - Abendl. Häuser. Ausgew. E.en. Hg. Wulf Kirsten. Bln./DDR 1970. - Werke. Hg. Rainer Gruenter. Ffm. 1973. - Einzelwerke, Erstausgaben: Ein Frühlingsopfer. Bln. 1900 (D.). - Der dumme Hans. Bln. 1901 (Trauersp.). - Peter Hawel, Bln. 1904 (D.). - Benignens Erlebnis. Bln. 1906 (D.). - Im stillen Winkel. Bln. o. J. [1918] (E.en). - Feiertagskinder. Bln. 1919 (R.).

Literatur:

Würdigungen von Zeitgenossen: Herman Bang: Graf E. K. In: NRs 23 (1912), S. 427-430. - Thomas Mann: Zum Tode E. K. s. In: Ders.: Rede u. Antwort. Bln. 1922, S. 258-263. - Paul Wertheimer: E. v. K. In: Ders.: Brüder im Geiste. Wien 1923, S. 25-34. - Biographisches: Franz Blei: Erzählung eines Lebens. Lpz. 1930, S. 360-364. - Korfiz Holm: ich - kleingeschrieben. Mchn. 1932, S. 194-210. - Max Halbe: Jahrhundertwende. Danzig 1935, S. 316-325. Das Buch der Keyserlinge. Einl. Otto v. Taube. Bln. 1937. - O. v. Taube: Erinnerungen an E. v. K. In: NRs 49 (1938), S. 287-305. - Ders.: Daten zur Biogr. E. v. K.s. In: Euph. 48 (1954), S. 95-97. - Einzelne Werke: Richard Brinkmann: E. v. K.: ›Beate u. Mareile‹. Die Objektivierung des Subjektiven. In: Ders.: Wirklichkeit u. Illusion. Tüb. 1957. 31977, S. 216-290. - Benno v. Wiese: E. v. K. ‘Am Südhang’. In; Ders.: Die dt. Novelle v. Goethe bis Kafka. Bd. 2, Düsseld. 1962, S. 280-298. - Hans Baumann: E. v. K.s Erzählungen. Eine Interpr. des Romans ›Abendl. Häuser‹. Zürich 1967. - E. Allen McCormick: Inner and outer landscape in E. v. K.'s ›Dumala‹. In: FS Frederic E. Coenen. Chapel Hill 1970, S. 126-136. - Rado Pribic: K.'s ›Schwüle Tage‹ and Turgenev's ›First Love‹. A Comparison. In: FS André v. Gronicka. Bonn 1978, S. 142-152. - Wolfgang Nehring: ›Harmonie‹. Die Welt E. v. K.s. In: Gerald Chaple u. Hans H. Schulte (Hg.): The turn of the century. German literature and art, 1890-1915. Bonn 1981, S. 227-235. - Weitere Titel: Saladin Schmitt: K., Die Novellen. In: Mitt.en der Literarhistor. Gesellsch. Bonn 5 (1910), S. 257-281. - Hedwig Schwarz: Die Frauengestalten in den Werken E. v. K.s. Diss. Zürich 1929. - Käte Knoop: Die E.en E.v. K.s. Marburg 1929. - William Webb Pusey III: - Wolfdietrich Rasch: Décadence-Motive in E. v. K.s Romanen u. E.en. In: Jb. Int. Germ. 15, H. 1 (1983), S. 8-37. - Sabine Buchlaub u. Claudia Werfel: Die Landschaftsdarstellung in E. v. K. s Erzählwerk. In: Dieter Kafitz

(Hg.): Dekadenz in Dtschld. Ffm./Bern 1987, S. 243-257.

(Nach dem "Keyserling-Artikel" von Jochen Meyer in: Killys Literaturlexikon /CD-Rom. Bertelsmann Verlag; dort noch weitere Sekundärliteratur.)

* Das Drama liegt jetzt vor als Druck in der Friedenauer Presse. Berlin (1990).

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Abschließend zum Porträt von Keyserlings als eines (fast) vergessenen baltischen Dichters ein weithin unbekanntes Kabinettstück seiner Prosa:

Ein klangvoller Dichtername ist Eduard von Keyserling. Literarisch hat er alle späteren Leseepochen bisher ruhmvoll überstanden, und ist gerade in unserer Zeit wieder häufig verlegt. Eine nur vordergründig untypische Geschichte in seinem Werk ist die folgende Kurzgeschichte:

Eduard von Keyserling: Der Beruf

Der alte Jahne, der Gemeindeabdecker, war gestorben und wurde bestattet. Die Beerdigung war groß und feierlich. Die ganze Gemeinde in Sonntagskleidern erschien auf dem kleinen Friedhof. Der Gutsherr hatte reichlich Branntwein gespendet. Der Schulmeister hielt am Grabe eine Rede. Er sprach davon, wie treu Jahne sein Amt verwaltet hatte; wie Gottes Segen auf seiner Arbeit geruht; wie er von allen geliebt und geachtet worden war. Die Frauen weinten, die Männer nickten andächtig. Recht hatte der Schulmeister! Jahne war ein guter Mensch gewesen. Durch dreißig Jahre hatte er die gefallenen Tiere abgezogen, die Kloaken gereinigt und den Komposthaufen im Gutshofe gebaut. Was wäre aus der Gemeinde ohne Jahne geworden! Gern gab jeder ihm, wenn er kam, Branntwein und gut zu essen und das Geld für die Arbeit. So war Jahne ein geachteter Mann und hatte ein hübsches Einkommen. Zwar durfte er nicht mit den andern an demselben Tische essen, durfte das Brot nicht anfassen, nicht aus dem Kruge trinken oder in dem Bette eines anderen schlafen, Na ja! Das war mal so. Das brachte das Handwerk mit sich. Eine hübsche, helle Maisonne schien zu des alten Jahnes Bestattung. Der Friedhof war grellgrün von dem jungen Grase. Auf den Gräbern standen Anemonen, weiß wie Milchpfützen. Nach der Feierlichkeit sagen die Frauen noch ein wenig auf den sonnenwarmen Steinen der Friedhofsmauer, sonnten ihren Putz und schwatzten. Bille, die Frau des roten Jehze, führte das große Wort. Seit gestern war sie ja Frau des Neuen Abdeckers. Das erhitzte Gesicht mit den runden Augen, der Stumpfnase, dem lippenlosen Munde, glich einem rosa Totenköpfchen und glänzte vor Stolz: »ja, Glück habt ihr gehabt«, sagte die Hofes Wäscherin. »Klug muß man sein«, meinte Bille. »Gleich, als der Jahne krank wurde, sagte ich zu Jehze: Du nimmst die Stelle. So’n Mann is ja dumm! Nein und nein, er hat nich' das Herz dazu. Hat denn der Jahne mit dem Herzen gearbeitet?« Alle lachten. »Na -« fuhr Bille fort, »ich bin zum Herrn gegangen und habe gesagt: Jehze bittet um die Stelle. Der Herr war froh, denn er hält große Stücke auf den Jehze.« - »Was sagte der Jehze dazu?« fragte die alte Marri. - »Er schimpfte und schlug mich«, erwiderte Bille, »aber, da half nichts; fest ist fest. Wenn der Herr einem die Ehre antut, kann einer nich’ nein sagen.« - »Leichte Arbeit und die Einnahmen«, meinte die Wäscherin, »nu ja, mehr als beim Wäschewaschen kommt dabei schon raus.«

Jehze kam langsam auf die Sprechende zu; kurz, breit, den großen Kopf tief zwischen den Schultern, das Gesicht voll roter Haare. Er lehnte sich an die Mauer, drehte eine Anemone zwischen den Fingern und murmelte. »Blumchen, Blumchen.« - »Von eurem Glück sprechen wir«, sagte Marri. Jehze kratzte sich den Kopf: »ja, Glück -« meinte er, »es gibt verschiedenes Glück.« - »Nein«, schloß Bille streng die Unterhaltung, »Glück is Glück, und Arbeit is Arbeit. Seidene Strümpfe kann nich'jeder zu stopfen kriegen.«

Endlich brach man auf. In der Knechtskaserne, bei Katte, der Tochter des Verstorbenen, war ein Festessen angerichtet. Allen voran ging Bille, sehr aufrecht in ihren bunten Tüchern, lächelnd. Es war heute auch ein wenig ihr Ehrentag. In der kleinen Knechtsstube setzten die Gäste sich an den weißen Brettertisch. Jehze, in seiner Stillen, befangenen Art, ging auch an den Tisch, setzte sich auf die Bank und wischte sich die Lippen. »Nee, Jehze - hier nicht«, rief Katte, »dein Tisch is dort«, und sie wies auf die Fensterbank, wo Bille schon thronte. Alle lachten. »Der kennt seine Krippe noch nicht«, hieß es. Jehze wurde sehr rot, erhob sich und schlich zu der Fensterbank hinüber. "So", sagte Katte, "hier is dein Brot und dein Fleisch und dein Glas; alles für dich separat, wie für’n Grafen." - "Wie denn anders«, meinte Bille. Das Essen begann, es wurde still im Gemache. Plötzlich erscholl Billes scheltende Stimme: »Was is nu? Warum ißt du nicht?" Jehze war aufgestanden. Er zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern; dabei haute er das Brot auf die Fensterbank. »Wenn ich nicht kann, so kann ich nicht", brachte er mühsam hervor, »so nicht - wie - wie - ein Gespenst." Dann spie er aus und eilte - wie gejagt zur Türe hinaus. Alle hielten im Kauen inne. Dann brach ein schallendes Gelächter los. As der dumm!" - "Na ja - die Männer sind so", meinte Bille, "er wird sich gewöhnen. An was Gutes gewöhnt sich jeder." Damit band sie Jehzens Brot und Fleisch in ein rotes Tuch ein. (1903)

(Aus: E. v. K.: Harmonie. Romane und Erzählungen. München 1998. Knaur-TaBu 61109)

Zur Interpretation:

Die Erzählperspektive, die von Keyserling hier wählt, ist erstaunlich direkt, umstandslos sozial orientiert. Das kleine Volk, die Dienerschaft, die Zuständigen für Arbeit, Mühe, Dreck und Gestank - sie werden ohne Sentimentalität, ohne Sozialkitsch dargestellt - in ihrer Art zu überleben. Des Barons v. K.s Gesellschaftskritik ist ohne »soziale Attitüde« (Thomas Mann in seinem Nekrolog) u. deshalb um so eindringlicher - radikaler als die Fontanes. Genau benannte Sinneseindrücke, Farben v. a.,aber auch Gerüche u. Klänge, die Übergänge u. Gegensätze von Hell u. Dunkel, Innen u. Außen, Natur und Gesellschaft gewinnen bei K. jenseits aller Oberflächenreize eine kritische Funktion u. darüber hinaus - als Schicksalssignale - symbolische Qualität. Sein symbolischer und zgl. Ironisch-kritischer Impressionismus gibt ihm einen souveränen Platz im europäischen Spiel der psychologischen Stile seit S. Freud.

Als Erzähler, Dramatiker und Essayist zeigt er der deutschen Sprache und Literatur eine Feinfühligkeit für Herrschaften und Diener, adelige Männer und Mädchen aus der Unterschicht. Thomas Mann war zu Recht begeistert von Keyserling und widmete ihm einen Essay zum Tode, der auch noch heute zeigt, wie sensibel in sprachlichen und sozialen Belangen einer, aus einer Herrenschicht stammend, seinen Zeitgenossen aufzeigt, wie und warum sie die Funktion einer Leitkultur verloren hatten. Sie hatten sich überlebt in ihren materiellen und religiösen, sprachlichen und ideellen Strukturen und nicht mehr bemerkt, daß eine demokratische und kommunikative und religiös liberale Ideenwelt eingezogen war, von der sie zwar materiell profitieren, aber nicht geistig mitgestalten wollten. - Die Herrschaften verabschiedeten sich mißgestimmt ('melancholisch' genannt), indigniert und unwillig (sich bekenntnishaft und trotzig apolitisch gerierend) aus ihrer Welt und Umwelt - sie hätten von Keserling lesen können, wenn sie mit Wahrhaftigkeit Kultur gehabt hätten.