Gertrud von den Brinken

 

·                    18. 4. 1892 auf Gut Brinck-Pedwalen/Kurland

·                     † 17. 11. 1982 in Regensburg.

·                    Lyrikerin und Prosaautorin.

 

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Nach ihrer Kindheit auf dem Familiengut Brinck-Pedwalen verbrachte B. ihre Schulzeit in Mitau. Ab 1915 arbeitete sie in Tuckum als Krankenschwester u. Englischlehrerin. Ihr erster Gedichtband „Wer nicht das Dunkel kennt“ (Riga) erschien 1911. 1925 heiratete sie den Österreicher Walther Schmied-Kowarzik (1885-1958), den damaligen Ordinarius für Philosophie an der Universität Dorpat/Estland. In den 30er Jahren lebte B. in Frankfurt/M. u. Friedberg/Hessen, bis sie 1939 nach Mödling bei Wien übersiedelte. B. besuchte in diesen Jahren immer wieder ihre baltische Heimat. 1936-1942 entstanden die Romane „März“ (Wien 1937), „Herbst auf Herrenhöfen“ (Bielefeld 1939), „Unsterbliche Wälder“ (Stuttgart 1941) und „Niemand“ (Stgt. 1943), die in den 40er Jahren mehrfach aufgelegt wurden. Nach Flüchtlingsjahren in Unterbruck/Oberpfalz lebte B. von 1950 bis zu ihrem Tode 1982 in Regensburg.

 

Im Mittelpunkt ihres Werks stehen historische Ereignisse und persönliche Erinnerungen an ihre baltische Heimat. Ihre autobiographischen Aufzeichnungen "Land unter. Erlebnisse aus zwei Weltkriegen, Bolschewikenzeit und Nachkriegsjahren." (Darmst. 1977) geben Zeugnis vom politischen Schicksal der Balten während u. zwischen beiden Weltkriegen.

Die für sie leidvollen Folgen wechselnder deutscher und russischer Hoheitsansprüche wurden für die Autorin Ausgangspunkt für immer wieder neu formulierte Sinnfragen. Auch in ihrem letzten Roman „Nächte“ (Kassel 1980) verknüpft B. Einzelschicksale mit historischen Geschehnissen im Baltikum der Jahre 1925 bis 1944. Ihr einfacher und direkter Erzählstil ist unsentimental und verleiht gerade den dramatisch gestalteten Passagen epische Ausdruckskraft. In B.s zahlreichen Gedichtbänden stehen Sinn- und Glaubensfragen vor dem Hintergrund persönl. Erlebens. Wahnsinn und Unmenschlichkeit der Wiederkehr der Kriege werden in ihrem Schauspiel „Die Sintflut steigt“ (Urlesung 1951 – Darmstadt 1977) an der Gestalt Noahs symbolisiert, Qualen u. Trauma der Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten thematisiert das Schauspiel "Wasser der Wüste" (Hörspielfassung 1959 – Darmstadt 1977). Ein Überlebender des Warschauer Ghettos versucht sich in Israel eine neue Existenz aufzubauen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage nach dem Motiv für seinen Verzicht auf Vergeltung.

Frau von den Brincken hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter die Albertus-Magnus-Medaille der Stadt Regensburg und das Bundesverdienstkreuz. Sie gilt neben Siegfried von Vegesack, Sigismund von Radecki, Frank Thiess und Werner Bergengruen als eine der bedeutendsten Schriftstellerpersönlichkeiten des Baltikums.

Gehen wir zurück in ein  frühes Werk:

 

Herrentod (1919)

 

Zehn Knechte trieben ihren Herrn zum Sterben.
Glanzlos am Galgenberg verglomm ein Stern.
Und Schnee fiel gläsern über Schnee gleich Scherben.
Die trunknen Knechte johlten um den Herrn.

 

Straff schritt er in zerschliss’ner Sträflingsjacke,
unwandelbaren Hochmut im Gesicht,
die Schultern trugen schwere Eisenhacke,
und seine Augen unverhülltes Licht.

 

Wozu die Hacke? "Um mein Grab zu graben."
Wozu das Leuchten, mordumbrüllter Mann?
"Es ist ein Dank, ich will ihn bei mir haben,
damit ich, wenn’s so weit ist, lächeln kann...

 

Mir ist von Wolken über meinem Parke
seit Kindheitsfrühen sehr viel Glück geschehn..."
Und sprich, wozu, trotz Fluch und Tod, der starke
Hochmut in dir? "Zum Wiederauferstehn..."

(G .v. d. B.: Unterwegs. Gedichte. Stuttgart 1942. S. 83)

 

Eine ergreifende Szene aus der Männerwelt, von einer Frau überliefert: historische Realität im Baltikum des frühen vorigen Jahrhunderts, mit den Stichdaten 1905 und 1919, Bürgerkrieg. In die Jugend der Dichterin (1892 bis 1982) fielen Revolutionen, Krieg und Vertreibung bzw. (später 1939) Auszug auf Führer-Befehl vieler Deutscher. Frau von den Brincken siedelte 1927 mit ihrem Mann, Prof. Dr. Walther Schmied-Kowarzik nach Frankfurt über, später nach Wien und schließlich nach Regensburg, wo sie 1982 verstarb. Ihr Werk ist fast verschollen. Ihre Lyrik nur noch baltischen Interessierten bekannt, wiewohl sie einen sehr interessanten Ton und einen frischen Stil schrieb, sowohl von ihren weiblich-intuitiven als auch historisch-gesellschaftlichen Interessen und Themen her. Eine geradezu literarisch spannendes Werk ist ihr Gedichtband "Wellenbrecher" (Bläschke Verlag Darmstadt 1976), "zweistimmige Lyrik", in der sie Themen einmal klassisch gebunden und das andere Mal modern in freien Rhythmen gestaltet. Ob sie über Landschaften oder Kinder schreibt, Personenporträts verfaßt oder über Glaubensfragen reflektiert, z.B. die Gottesidee - sie ist eine Lyrikerin und Denkerin, die leider in die heute gängigen deutschsprachigen Lesewerke oder Literaturgeschichten keinen Eingang gefunden hat.

Ihr letzter Roman, "Nächte" (1982 im Wenderoth Verlag, Kassel, erschienen), ist noch auf dem Büchermarkt präsent. Ebenso auch der Gedichtband „Gezeiten und Ausklang. Gedichte aus dem Nachlaß“, (herausgegeben von Winno von Löwenstern, Köln 1992: Mare Balticum).

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In Kassel lebt ihr Sohn, Philosoph und Universitätslehrer, Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, 34119 Kassel [www.schmiedk@uni-kassel.de], dem ich für Ergänzungen und Hinweise zu diesem kleinen Porträt herzlich danke.

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Gertrud von den Brinckens Dichtung spricht sich häufig religiös radikal im Sinne eines offenen, interreligiösen Dialoges aus; ihr Werk ist aber bis heute theologisch nicht erschlossen. Folgende Beispiele sollen ihre menschliche (d.h. weibliche und männliche) und ihre konfessions- und standes- und länderübergreifende Glaubens- und Sprachkraft belegen:

 

Glaubensbekenntis (Nr. 1)

 

Ich glaube nicht, daß unser Gott allmächtig
und Schöpfer Himmels und der Erde ist,
und Nächte schuf so bodenlos und nächtig,
daß keine Dichtung ihren Abgrund mißt.

 

Ich glaube nicht, daß Gott, als Lebensquelle
und Herrscher über unbegrenztes Licht,
zuließe Marterung und Sündenfälle -
Wenn ich es glaubte, liebte ich Ihn nicht!

 

Ich glaube nicht, daß der allwissend Milde
uns in die Fron unwürd’ger Sklavschaft zwang
noch daß Er schuf nach Seinem eigenen Bilde
das Menschenantlitz, das ihm so mißlang!

 

Ich glaube nicht, daß Er, um Seines Stammes
Verirrten zu verzeihn, gleich Elohim,
bedurfte eines blutgen Opferlammes -
Wenn ich es glaubte, graute mir vor Ihm!

 

 

Glaubensbekenntis Nr. 3

Ich glaube nicht, daß Jesus auf die Erde
gekommen ist als Gottes einzger Sohn.
Weit ist die Weide; Hirten braucht die Herde -
wie heute, so auch längst vor Christus schon.

 

Gott sandte Buddha, Laotse und Mose
und Franz und Schankara, Plotin und Kant;
und unerkannte stille Namenlose,
die selbst kaum ahnen, daß sie gottgesandt.

 

Er wählte Viele, um zu uns zu reden
durch Kreuz und Demut oder Kraterkraft.
Ich glaube, Jesus freut sich über jeden
von diesen Brüdern seiner Heilandschaft!

 

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Glaubensbekenntis Nr. 6

Ich glaube nicht, daß Gott die ungestümen
Gefälle unsrer schönen Worte mag,
die seinen Namen, Namen, Namen rühmen,
Ihm schmeicheln wie vor einem Kaufvertrag.

 

Ich glaub, er lauscht, ob einem Seelengrunde
noch unverstellt ein leises Wort entquillt,
vielleicht gesagt zu einem kleinen Hunde,
das mehr als hundert laute Hymnen gilt.

 

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Entstanden sind diese Glaubensbekenntnisse, die die Autorin zu Lebzeiten nicht mehr veröffentlichen konnte, zwischen 1959 und 1982. Sie zeigen einen lebenslangen Umgang mit Fragen der Sprache und den sie offenbarenden bzw. zugrunde liegenden Symbolen und Werten der Christlichkeit des Mitleids und toleranten Weltoffenheit.

(Texte aus: G. v. d. B.: Gezeiten und Ausklang. Gedichte aus dem Nachlaß herausgegeben von Winno von Löwenstern. Köln 1992: Mare Balticum. S. 183ff.)

 

Hier nun, in und mittels ihrer Literatur: zurück in der Dichterin verschollenes Heimatland, das sie nach Flucht, Vertreibungen, Morden in den europäischen Kriegen nie mehr materiell besitzen wollte, nur sprachlich und kulturell erhalten wissen mochte. Ihre Gedichte und Prosatexte haben überlebt. Es gilt, sie den nächsten Generationen vertraut zu machen.

 

G. von den Brincken:

Am schwersten ist es sonntags

 

Versunkne Heimat, ferner als in Meeren
Atlantis schimmert, liegst du unsrer Fahrt.
Ist es doch nirgends schwerer heimzukehren
a1s in die Heimat, die zur Fremde ward.

 

Wenn's sonntagt und die Leute rings sich schmücken,
trägt jeder seinen kleinen Freudenschein.
Dann treibt’s uns fort vom Lärm der großen Brücken -
Am schwersten ist es, sonntags arm zu sein!

 

Dann treibt es uns hinweg aus dem Gedränge,
stadtauswärts - an Geleise und Chausseen -
Vielleicht, daß diese schmalen Schienenstränge
bis fern in unsre grüne Heimat gehen?

 

Dann treibt es uns, an Telegraphenstäbe
Das Ohr zu legen, und wo’s keiner sieht,
zu träumen, daß ihr Singen Antwort gäbe
auf unsres Herzens ew’ges Heimwehlied.

 

Die Telegraphendrähte surrn und schwirren -
Schwang einer vom vertrauten Laut vielleicht?
Die Züge, die am Horizont verflirren, -
ob einer wohl geliebtes Ziel erreicht?

 

... Der Tage graukristall’ne Wogen wiegen
mit monotonem Grabchoral den Kahn...
Wem wär je Atlantis auferstiegen
Aus eines Schicksal dunklem Ozean? ...

 

*

 

Gut in Kurland

Hier war der Fußweg, der zum Wäldchen ging,
aus dem im Sommer die Zigeuner kamen,
ein Lindenduft um alle Hecken hing
wie ein verwehtes Märchen ohne Namen...

Hier lag der Feldstein immer sonnenheiß
am Gartenende, wo wir wartend saßen,
eh Gäste kamen; schmal und flimmerweiß
sahn wir sich kreuzen fern im Tal die Straßen.

Von hier aus hab' ich oft, wer weiß wie lang,
ins Land geschaut, wenn's blau und blauer blaßte,
und Gott gesehn auf seinem Abendgang;
wie er das Land in seine Arme faßte.

Noch beugt die alte Birke sich, als wär
sie Wächterin vor unsres Gartens Graben;
durch ihre Zweige wird der große Bär
den ersten Blick in die Veranda haben.

Das Flüßchen kichert mit gedämpftem Laut
im Wiesengrund, dem schwalbenaugen-bunten,
nur daß sich keiner heute selig schaut
an diesem Stückchen Himmelreich hier unten.

Noch harft durchs Gitterwerk am Stall der Wind,
noch ziehen heim am Rain entlang die Herden,
nur daß seitdem die Zäune nicht mehr sind,
am Hang die Veilchen totgetreten werden ...

Im Nebel stehn die Weiden Hand in Hand
am Weg, den bahnwärts unser Wagen rollte,
die Räder knirschen durch den grauen Sand -- ...
Ach, daß heut keine Seele dieses Land
als Seele liebt, wie Land geliebt sein sollte!

*

(Aus: G. v. d. B.: Das Heimwehbuch. Berlin und Leipzig 1926. S. 14)

 

 

Ein bildkräftig-lebendiges Gedicht, mit dem ich - persönlich, als soziale, familiäre Einheit und in meiner Lehrer-Profession - gerne und oft Abschied und Lust zu Wiederkehr aus gegebenem Anlass und zu je passabler Zeit nahm, da uns in diesem Text etwas „Fortgehen“ heißt - privat und kommunikativ und ästhetisch, wenn "Psyche", was griechisch ist und sowohl „Schmetterling“ als auch „Seele“ heißt, es von uns fordert:

In solchen uralten, lyrischen Motiv kehrt der Lebens- wie Todes- und Fortlebensgedanke immer wieder eindringlich bei transzendental denkenden Menschen ein - hier in weiteren exemplarischen Gedichten von G. von den Brincken:

 

Nachtfalter

Ein Falter, mit sehnendem Herzen
nach Lichtglanz, umflog meine Kerzen,
bewundernd den leuchtenden Schein.
Befangen in träumender, scheuer
Betrachtung umkreist er das Feuer,
... und flog in die Flammen hinein. -

 

Ich sah, wie die zitternden Schwingen
zu Asche im Feuer vergingen,
und frug mich: was Gott wohl gedacht,
als ER dieses ruhlose Streben
nach Licht und nach Helle gegeben
gerade den Faltern der Nacht...

(Aus: G. v. d. B.: Wer nicht das Dunkel kennt. Gedichte. Riga 1911. S. 35)

 

 

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Gertrud von den Brincken:

Vielleicht

 

Nicht lange mehr und die mich kannten, werden
vergessen, daß sie jemals mich gesehn.
Auf einem Schreibtisch irgendwo auf Erden
wird noch ein Bild von mir ein Weilchen stehn;

 

Wird noch ein Brief bewahrt in einer Lade,
ein Buch von mir, bevor man es verschenkt;
Und irgendwer sagt einmal leise "schade"...
Bevor er einschläft oder weiterdenkt.

 

Vielleicht wächst irgendwo ein scheuer, kleiner
Gedanke auf, den schlaflos ich gedacht -
Vielleicht ‑ ach Gott, wir alle sind doch keiner
Beachtung wert vor so viel schwerer Nacht.

(Aus: G. v. d .B.: Daß wir uns trennen mußten. Darmstadt. 1975. S. 58)

Hinzuweisen ist noch auf den Abdruck dieses Gedicht in Jahrbuch des baltischen Deutschtums. Bd. 50. 2003. Hrsg. v. der Carl-Schirren-Gesellschaft e.V. Lüneburg  2002. S. 237.

 

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Ebenso findet sich dort als Gedenken zu ihrem 20. Todestag der Aufsatz "Sic transit gloria mundi - oder: Vom Vergessen-dürfen".

In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums. Bd. 50. 2003. Hrsg. v. der Carl-Schirren-Gesellschaft e.V. Lüneburg  2002. S. 232 - 236.

 

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Es wäre deutsche und überregional-kulturelle, als gesamteuropäische (früher wie usurpatorisch selbstverständlich "landsmannschaftlich" genannte) Pflicht, Themen, Ideen und Sprache der Dichterin Gertrud von den Brincken durch eine repräsentative Auswahl in der deutschen Sprachwelt wachzuhalten, sie zu entfalten für jüngere Zeiten und neue Leser.

Die Dichterin vermag neben den bekanntesten Frauen der deutschen Literaturgeschichte nach 1945 zu bestehen. - Kaum eine oder einer weiß es...

Deshalb folgt hier noch eine Mini-Anthologie, als medialer Ort, wo Leserinnen und Leser verweilen können.

 

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Gertrud von den Brincken:

[Aufzeichnung, ohne Titel überliefert]

 

Einmal, wenn ich wieder ein Buch schreiben kann, werde ich aufhören, Briefe zu schreiben. Briefe sind immer nur Notbehelf. Wie unser ganzes Leben ein Notbehelf ist. Das Eigentliche ist nicht zu erreicht, nicht mit Geduld noch mit Worten. Briefe sind Bücher, die keine wurden. Was in Büchern zu Schicksal wird, ist in Briefen - auch Schicksal...

Jenes mein Buch wird an Gott gerichtet sein, weil er auch Briefe nicht antwortet.

Haben Sie schon einmal an Gott geschrieben? Es lohnt sich nicht, denn alles was ich schrieb, war an ihn gerichtet. Auch was ich Ihnen schreiben. Jeder könnte für eine andern Gottes Stellvertreter sein, er weiß es nur nicht. Wozu wären sonst Stempel und Religionen gestiftet. Ich möchte in den Jahrtausenden leben, wo man an sich zurückdenkt wie an Ichthyosaurier. Ich stelle mir vor, daß man dann mehr wissen und darum nicht mehr fühlen wird, als man ertragen kann. Dann werden Briefe Blicke sein, die man an  Tote und Lebende, Vergangene und Künftige richten kann und selber beantwortet. Ich habe immer „Sie“ zu mir gesagt, denn wer wäre uns fremder als wir selber?

Zu spät kam ich dahinter, daß es gar nicht darauf ankommt, an wen wir unsere Briefe schreiben. Man kann sie auch an den Wind oder an Niemand richten, an ein Segel auf der Ostsee oder eine fremde Seele, die in der unseren eingesargt liegt. Ich wäre reicher, vielleicht sogar berühmt geworden, wenn ich das früher entdeckt hätte. So sind die ungeschriebenen Briefe selten zu Büchern geworden und meist nur zu Lücken im Alltag, die wehtun wie offene Wunden. Was vielleicht auf das gleich hinauskommt, wenn Sie darüber hinwegkommen können. Deshalb sollte man sich nicht wichtiger nehmen als den Steigbügel zu sich selber. Und dennoch gelang man über manches nur hinweg, wenn man sich ein wenig dafür bewundert. Für ein Schweigen zum Beispiel, oder eine Geduld. Beide können von großem Mut oder von großer Mutlosigkeit zeugen. Sie sollte nicht mir dem grellen Scheinwerferlicht Ihrer Selbstkritik Ihrer Züge Schatten oder Kerben entziffern.

Warum ich „Sie“ zur mir sage? Nicht weil ich mir fremd bin, sondern weil ich mir fremd werden möchte. Damit mich nichts mehr daran erinnert, daß alle Briefe, die ich schreibe, an den Wind geschrieben sind...

(Nach einer nicht mitgeteilten, mir noch unbekannten Quelle)

 

*

 

In dem Band “Wellenbrecher“ wählte die Dichtern  - gemäß dem vorangestellten Motto „aber Worte können Wellenbrecher vor des Todes dunklen Ansturm sein...“ - für jedes Motiv eine zweifache Form der existenziellen Themen; so erzielte sie für ihre Leitmotive eine Zweistimmigkeit der Aussage, eine gereimte, gebundene, und eine reimlose, ungebundene.

Die sprachlichen und metaphorischen Elementen sind bezaubernd, beschwörend und immer, auch wenn die Dichterin schwermütige Themen aufnimmt, hoffnungsgestimmt und häufig humorvoll.

 

Hier eine Auswahl von Gedichten, die mir besonders geglückt erscheinen:

 

Gertrud von den Brincken:

D i c h t e n  ist ...

(Fassung 1)

 

Dichten ist: Unbrauchbares
anbaun, wo alles wüst;
glauben, der Heiland war es,
der dich am Zaun gegrüßt.

 

Sterne falln in die Stuben,
mieten sich ein in der Brust;
Frühlinge, die wir begruben,
blühen auf als August.

 

Dichten ist: Ungeschehnem
nachgehn am Erdbeerrain,
treu einem Niegesehnen
oder untröstlich sein.

 

Alles, was unvereinlich,
feiert Hochzeit im Lied.
Leblos und unwahrscheinlich
wird, was im Leben geschieht.

 

Dichten ist: w i s s e n: keiner
braucht deinen Ruf und Reim.
Dichten ist g l a u b e n: einer
trägt sie doch mit sich heim.

 

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D i c h t e n  ist...

(Fassung 2)

 

Dichten ist Sichten
was hinter Geschicken geschah,
lange vor Weltenaufgang,
lange vor Ithaka.
Schwermut wiegt schwer auf der Waage
schwankenden Gleichgewichts
Da hilft keine süße Praline,
keine blendend weiße Gardine,
kein Schlager im Rundfunk,
nichts.
Nur,
nur die papierdünne Knospe
zukünftigen Gedichts.
Lerne daraus: in Sirenen
Sinn der Verwandlung sehn,
Versuchung und Odysseen
ohne Wachs im Gehörgang bestehn.

*
(Aus: G. von den Brincken: Wellenbrecher. Zweistimmige Lyrik. Gedichte. Darmstadt 1976: Bläschke Verlag. S. 156f.)

 

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Gertrud von den Brincken:

Der Reim

 

Und nun fand ich dennoch eine leise
Lösung zu des Tagewerks Beginn.
Keine Weisheit ist’s und keine Weise,
weil ich selber fern von weise bin.

 

Kein Gesang ist’s: Lieder sind zu innig
und zu trächtig noch von Traum und Keim.
Und der Tag ist scharf und widersinnig.
Arbeit - Opfer - haben keinen Reim.

 

Was ich fand, liegt einsam im Gemüte,
da sich’s langsam nur im Tag daheimt.
Kind, wie tief klingt diese kleine Güte:
daß sich „Blühe“ doch auf „Mühe“ reimt!

*
(G.v.d. B.: Unterwegs... Gedichte. Stuttgart 1942. S. 30)

 

*

Ein Nachruf, aus dem Feuilletonteil einer unbekannten Zeitschrift, lautet so:

 

Abschied von Gertrud von den Brincken

 

„Abschied“ hieß eines ihrer Bücher, und nun hat sich die Neunzigjährige, in Regensburg lebende Dichterin aus dem Baltikum, Gertrud von den Brincken, von uns still und leise verabschiedet; sie starb vor ei­nigen Tagen an Herzversagen. Die mehrfache Preisträgerin - von der Stadt Regensburg war sie 1977 als erste Frau mit der Albertus‑Magnus‑Medaille ausgezeichnet worden ‑ veröffent­lichte vor zwei Jahren ihr letz­tes Buch, den Roman "Nächte" Sie lebte ein zurückgezogenes Leben, fast erblindet und taub, aber in ihrer Schaffenskraft un­gebrochen bis zu, ihrem Tode.

Gertrud von den Brincken stammte aus Kurland, wo sie auf dem väterlichen Gut aufge­wachsen ist. Sie erhielt zu­nächst Privatunterricht, weil die öffentlichen Schulen 1902 russifiziert wurden. Nach dem Tod des Vaters 1904 und der Revolu­tion von 1905 begann die Familie, deren Vermögen 1914/15 von den Russen beschlagnahmt wurde, zu verarmen. Im 1. Welt­krieg wurde Gertrud von den Brincken Rot-Kreuz-Schwester in einem deutschen Kriegslazarett in Livland, nach dem Kriege bildete sie sich als Lehrerin in Englisch aus. Inzwischen war, ihr Gedichtband „Wer nicht das Dunkel kennt“ (1911) erschie­nen. 1925 heiratete sie den Universitätsprofessor Dr. Walther Schmied-Kowarzik in Dorpat, der aus Österreich stammte.

 

Vier Romane, elf Lyrikbände, zahlreiche Erzählungen und mehrere Novellen hat die Dich­terin in ihrem. langen Leben veröffentlicht. Über ihren letzten Roman "Nächte" urteilte die renommierte Zeitung „Die Welt“: „Die Sprache der Autorin hat Poesie..., die Dialoge... haben Farbe!“

 

Gertrud von den Brincken:

Stimme im Dunkel

 

Licht wäre mehr ‑ ein Morgen oder Mond,
noch mehr: ein Fenster über Meer und Mooren,
das Kunde brächte, wo ein Bruder wohnt,
daß man nicht ganz allein ist und verloren.

 

So aber Nebel, Steg und Stern verwischt,
die Spur vorangezogener Karawanen,
wer wird, wenn Sicht und Zuversicht erlischt,
dem, der da wandert, Furt und Fährte bahnen?

 

Vielleicht geschieht’s, wenn er mit Gott entzweit
und ratlos bangt, wo mag Geleit und, Ziel sein?
Daß eine Stimme, Leid von seinem Leid,
ihn anrührt durch die tiefe Dunkelheit.
Licht wäre mehr - doch auch ein Wort, kann viel sein (...)

*
(Aus: G.v.d. B.: Stimme im Dunkel. München. 1949)

 

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Hier, es ist als Abschluss des Kurzporträts gedacht, das am häufigsten gedruckte Gedicht der Autorin:

 

Gertrud  von  den  B r i n c k e n:

Meine  Heimat

 

Meine Heimat könnt ihr nicht zerstören,
meine Heimat findet ihr nicht auf,

nicht die Birken, die nur mir gehören
an des Wiesenbaches Schlängellauf.

 

Nicht den Feldweg zwischen Roggenhalmen,
zwischen Himmels- und Kornblumenblau;
nicht der Kaddikfeuer braunes Qualmen
überm Brachland im Oktobergrau.

 

Nicht das langgezogne Lied der Flößer,
das im Dunkel immer weiter währt:
Immer tiefer wird und immer größer
jede Liebe, die von Leid sich nährt.

 

Meine Heimat könnt ihr nicht entreissen,
denn sie wuchs so ganz in mich hinein,
sang und segnete in ihrer weissen
Winterschwermut meine Seele ein.

 

Heimat ist nicht Hülle und Gewandung,
die man wechselt, die ein Wind zerstört,
Heimat ist eine Schicksal, Grund und Landung,
was uns tiefst und ohne Tod gehört.



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Bibliografie weiterer Werke:

Lieder und Balladen. Berlin. 1917. - Aus Tag und Traum. Riga 1920. – Schritte. Berlin und Leipzig 1924. - Das Heimwehbuch. Berlin. 1926 (L.). - Stimme im Dunkel. München. 1949 (L.). – Helmut sucht einen Freund (Jugendbuch). Lüneburg 1949. - Heimwehbuch II. Bovenden 1954. – Abschied. Hannover 1961. - Ismael. Fünf Fragmente. Nürnberg 1971. - Judas Ischarioth. Ein lyrischer Zyklus. Darmstadt. 1974. - Daß wir uns trennen mußten. Darmstadt. 1975 (L.) - Eine Handvoll Alltäglichkeiten. St. Michael/Österr. 1980 (Erzählungen).

 

Sekundärliteratur:

 

* Doro Radke: Die baltische Dichterin G. v. d. B. In: Heinz Radke und Hans-Ulrich Engel (Hg.): Geschichtsbewußtsein groß geschrieben. München/New York/London/Paris 1984. S. 137ff.

* Carola L. Gottsmann: Die ewige Suche nach dem Ratschluß Gottes. Analyse einiger Werke Gertrud von den Brinckens. In: Petra Hörner (Hg.): Vergessene Literatur - Ungenannte Themen deutscher Schriftstellerinnen. Frankfurt a.M./ Berlin/ Bern/ Bruxelles/NewYork/ Oxford/Wien 2001. S. 87ff.

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Lesehinweis:

Ein Abschnitt aus "Land unter" von G. von den Brincken - mit dem Titel "Restgutbesitzer" - ist  jüngst erschienen in dem empfehlenswerten Lesebuch "Erlebte Geschichte. Deutschbalten im 20. Jahrhundert". Hrsg. v. d. Carl-Schirren-Gesellschaft e.V. Lüneburg 2002. S. 107f.

 

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Nachtrag: Literaturangaben aus:

Autoren- und Werklexikon: Brincken, Gertrud von den. S. 1ff. - Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 2700 (vgl. Killy Bd. 2, S. 214 ff. Bearbeitet von Andrea Stoll). - Eine weitere, umfassende Bibliografie findet sich in May Redlichs "Lexikon deutschbaltischer Literatur". Köln 1989. S. 60f.