Balten-Porträt:

Werner Bergengruen:

Ad libitum: lesenswert, nicht nur zur Weihnachtszeit:

Weihnachtsbesuch bei der Vergänglichkeit

Mein Vater hatte uns häufig von seiner alten lettischen Kinderfrau Lisbeth erzählt, und ihre Lieder, ihre Aussprüche und Redensarten waren gänzlich in unser eigenes Kinderleben übergegangen, etwa: »Läßt ihr sich nur kämmen, Kinders, sonst werden die Läuse euch im Walde forttragen«, oder: »Lisbeth weiß alles. Eine weiße Rabe kommt in Küche geflogen und zählt Lisbeth alles, was Kinders machen«, oder die Sentenz: »Wär lügt, där stiehlt, un wär stiehlt, där wird jehungen.« Wir hatten die alte Lisbeth nie gesehen, aber sie war uns ein ähnlich geheimnisvoll vertrautes Stück Wirklichkeit wie der Kaiser, der lange verstorbene Großvater, das »bucklicht Männlein« oder der arme Reinhold aus unseren Kinderbüchern.

Am Weihnachtsnachmittag erklärte mein Vater meinen Brüdern und mir, auf dem Wege zur Kirche sollten wir ihn zu Lisbeth begleiten. Ich kann nicht schildern, in weichen Gefühlen der Erwartung ich mit Vater und Brüdern die ausgetretene, finstere Treppe emporstieg. Lisbeth würde ein tausendbuntes Zuckerwerk von Späßen und drolligen Aussprüchen aufglitzern lassen, sie würde von der "weißen Rabe" erzählen, würde meinem Vater um den Hals fallen und "Paulchen, alter Windhundchen" zu ihm sagen und mit ihm und uns singen: "TudolinTaggadin"! (Zu deutsch etwa: "Quitschequack-Dudelsack".)

Wir fanden ein ärmliches, übermäßig geheiztes und übermäßig ungelüftetes Zimmer. Ein schirmloses Küchenlämpchen blakte neben der Tür. Ein winziges Wesen, in Decken gewickelt, hockte im Halbdunkel neben dem Ofen. Es gab uns der Reihe nach die Hand und ließ uns unsere Namen sagen. Ich starrte Lisbeth an und wartete klopfenden Herzens auf all das Bunte, Lustige, Zutrauliche und Herzenswarme, das aus der Anfangsscheu dieser Begrüßung aufsprühen mußte. Ein ältliches Mädchen kam dazu, Lisbeths Nichte, mit der sie lebte, und machte sich geschäftsmäßig an das Auspacken unseres Weihnachtspakets. Mein Vater fragte herzlich nach Lisbeths Gesundheit.

"Wie soll jehen?" antwortete sie. "Altes Mensch hat Stiche, Stiche von Kopf bis Fieße." Dann fragte sie ausdruckslos: "Und wie jeht alte Gnefrau gute?" Mein Vater berichtete, und ich begriff, daß unter »alte Gnefrau gute« meine Großmutter, die alte gnädige Frau, zu verstehen war.

Eine unerklärliche Beklommenheit hatte von mir Besitz ergriffen. Meine Brüder schwiegen und sahen gleichgültig der auspackenden Nichte zu. Mein Vater aber plauderte nach seiner Art unbefangen und aufgeräumt. ja, bemerkte er denn gar nicht, was hier geschah? Ich war in dem Alter, welches noch das Unmögliche zu versuchen liebt und dem Schicksal Gewalt antun zu können meint. Ich faßte mir ein Herz und sagte schluckend: »Bitte singen Sie doch Tudolin-Taggadin." - "Wo wär ich denn singen?" erwiderte sie hart. "Altes Mensch hätt Schande zu singen."

Mein Vater sah nach der Uhr und sagte, wir müßten nicht zur Kirche. Wieder gaben wir der Alten die Hand, wieder klingelte der Schlitten über den knirschenden Schnee. Mich hielt eine rätselhafte Todtraurigkeit umfangen - im Schlitten in der Kirche, auf dem Heimwege, ja selbst noch zu Hause -, bis endlich die Tür zum Weihnachtszimmer sich öffnete und vor meinem Tischchen unter dem Lichterbaum die langen, braunhölzernen Schneeschuhe standen.

(Wiedergegeben vorbehaltlich der Abdruckerlaubnis der Bergengruen-Erbin Frau Dr. N. Luise Hackelsberger. - Aus: W. B.: Schnaps mit Sakuska. Baltisches Lesebuch. Hrsg. V. N. Luise Hackelsberger. München 1993. dtv 11577. S. 1109f.)

Zur (alljährlichen?) Weihnachtszeit als Angebot: ein besonders sensibler, menschlicher Erzähltext von Werner Bergengruen, der autobiografisch wichtig war für den jungen W.B., weil er - lebensgeschichtlich wichtig für ihn als Balten, der seine Heimat verlor und sie in Wort und Werk wiederfand: Als Junge schon erhielt Einblick in die eigene, gutbürgerliche Lebenswelt in Reval/Tallin (ab 1919 - und heute wieder - Hauptstadt Estlands) und in die der dienstbaren Geister, den Esten und Letten, auf deren Lebensverhältnisse man im ständisch bewußten deutschen Baltikum bis zu den Gründungen der Nationalstaaten Estland, Lettland und Litauen wie selbstverständlich sich verlassen konnte.

In dem vor einem Jahr erschienen Büchlein "Da draußen liegt der Schnee... Weihnachtliches und Winterliches aus dem Baltikum" (Wedemark-Elze, 2000, bei von Hirschheydt) fehlte jeglicher Text von Werner Bergengruen, der nun wirklich poetisches Hochgut zur deutschen Weihnachts-Leitkultur beisteuerte, erinnert sei an den "Der Hund in der Kirche", an das "kaschubische Weihnachtslied" und an den "Mystischen Tau". Im Gegensatz zu den vielen anderen baltischen Autoren, die schon aus den Schullesebüchern und Anthologien, also der deutschen Gegenwart, also dem Lese-Gedächtnis der heutigen Kultur, verschwunden sind, findet man Werner Bergengruen noch mit großen Dichtungen, z.B. "Kaschubisches Weihnachtslied" in Conradys Anthologie "Das große deutsche Gedichtbuch", bei Artemis/Winkler. München) und in Taschenbuchausgaben.

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Eine Überraschung vermag uns W. B. zu bieten, wenn wir uns in ein altes, vergilbtes Büchlein locken lassen, in das "Baltische Dichterbrevier", aus dem Jahre 1924. Dort nimmt er ein ganzes Jahrhundert vorweg, wenn es um die Elemente der Waren- und Warenhauskultur geht, die unser heutiges Alltags- und Erwerbsleben, prägt, übrigens auch, als permanente Begehrlichkeit und höchst intensiv gesteuertes Spaß- und Sehnsuchtsangebot, die Erlebniswelt unserer Kinder und Jugendliche:

 

Werner Bergengruen:

Das Warenhaus

Rasiert, hellbraun montiert, betreßt und goldbeknöpft

sonst nichts - steht der Portier auf seiner Stelle.

Du ahnst, woraus er seine Größe schöpft;

er hütet stumm der ganzen Schöpfung Schwelle.

Sibirien, China! Sachsen und Peru!

Meer! Atelier! Fabrik und Tropenwelt

Er weiß, was sie nur liefern, findest du

hier alles, alles, alles aufgestellt!

Hier duften Seifen, blitzen Necessaire,

Prachtbände funkeln golden und verblassen,

Korbmöbel stell’n sich drohend in die Quere

und kränken dich, bevor sie dich entlassen.

Knallrot der Mund und zauberklein der Fuß,

wächserne Damen tanzen, gehn und fächeln

und präsentieren Kleider und Dessous

starr mit gespenstisch eingefrornem Lächeln.

Du stehst geknickt vor ausgestopften Affen,

Leihbüchereien, Damengarderoben,

Sporthemden, Fleischkonserven, Kinderwaffen,

Teeräumen, erste Treppe links nach oben ...

Blitzblanke Syphons harren hellen Bieres,

Sparherde ... du erschrickst: Musik und Krach!

(Ein Fräulein weist die Güte des Klavieres

an Hand der "Fledermaus" dem Volke nach.)

Die Menge bringt dich surrend in die Weite,

zwölf Grammophone haben dich zum Besten.

Du gehst - halb aus Versehn - nur einen Schritt zur Seite

und stürzest jäh ins Reich der Sommerwesten.

Du merkst, das Chaos alles Existenten,

hier ist’s zum Kosmos weisheitsvoll gebändigt,

und jeder Teil der Welt wird den solventen

Mitbürger gegen Kasse ausgehändigt.

Die Rechnung stimmt, hier bringt sein Gott Errettung,

du stehst erblaßt, bewältigt und verdöst

und siehst der Schöpfung brausende Verkettung,

die ganze Welt in Waren aufgelöst.

Und diesem Kosmos hebst du an zu fluchen,

indes der Strom dich flutend weiterschiebst,

und voll Verzweiflung fängst du an zu suchen

nach irgendetwas, das es hier "nicht gibt".

Umsonst. Und durch dein fieberwirres Fragen

versickerst’s dumpf: Geist ... ideeller Wert ...

Dann wankst du fort, verwelkt, zermürbt, zerschlagen,

und bist zum Glauben des Portiers bekehrt.

(In: Baltisches Dichterbrevier. Hrsg. Werner Bergengruen. Berlin und Leipzig 1924. S. 118f.; Recht bei Frau Dr. N. Luise Hackelsberger)

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Zur Biografie:

Bergengruen, Werner Max Oskar Paul:

Dichter und Schriftsteller. Geb. am 16. 9. 1892 in Riga als Sohn des Dr. med. Paul B. und seiner Ehefrau Helene, geb. Boetticher. Nach dem Schulbesuch in Riga und Deutschland studierte B. bis zum August 1914 verschiedene Fächer in Marburg, München und Berlin; zu Beginn des Wintersemesters 1912/13 kam er zum ersten Mal nach München. Von 1914-1918 war er Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, zuletzt als preußischer Leutnant. 1919 trat er in den Stoßtrupp der Baltischen Landeswehr ein. Am 4. 10.1919 vermählte er sich in Marburg/L. mit Charlotte Hensel. Von 1920 an war er journalistisch tätig, häufig den Wohnort wechselnd. Als die wichtigsten Stationen seines Lebens bezeichnete er selbst Berlin, München, Tirol, Zürich und Rom. Von 1920 - 1922 war B. Redakteur der "Ost-Informationen" und 1925 Redakteur der "Baltischen Blätter". Von 1924 an arbeitete er zugleich als freier Schriftsteller. Von 1927-1936 war Berlin sein Wohnsitz, von wo aus er zahlreiche Reisen unternahm. Sein Wunschtraum, in München seßhaft zu werden, erfüllte sich erst im Frühjahr 1936: er zog nach München-Solln. Im gleichen Jahr (1936) konvertierte B. zum katholischen Glauben. 1937 wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, vor allem wegen seines Romans "Der Großtyrann und das Gericht" (1935 erschienen). In seinen "Schreibtischerinnerungen" erzählt er vom Leben in Solln, von seinem Schreibtisch, der aus dem Nachlaß Pettenkofers stammte, und von der Nacht im Herbst 1942, in der die Bomben fielen. Sein Heim wurde zerstört und so ging seine Münchener Zeit zu Ende, von der er sagte, daß sie schriftstellerisch wesentlich und erfolgreich gewesen sei. Von 1942-1946 lebte B. in Achenkirch/ Tirol, von 1946-1958 in der Schweiz, dazwischen 1948/49 in Rom, zuletzt in Baden-Baden. Er starb dort am 4. 9. 1964.

Ehrungen:

Folgende Ehrungen wurden ihm zuteil: Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig (1948), das Große Verdienstkreuz des Verdienst-Ordens der BR Deutschland (1957), Dr. h. c. der Universität München (1958), Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, Mitglied der Akademie für Menschenrechte.

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Zur Bibliografie:

Eine bis zum Jahre 1972 reichende Literaturliste der Erstausgaben, der eigenen Titel und der (meist aus dem Russischen) Übersetzungen, umfaßt auf fünf Seiten 148 Nennungen (in: May Redlich: Lexikon deutschbaltischer Literatur. Köln 1989. S. 37 - 43.

Ergänzende Text-Auswahl:

Die ewige Schale

Wie sich der goldenen Stunden

Süß Versäumnis dehnt!

Wie die Ringe sich runden -

Alles ist wiedergefunden:

Blüten flammen wie Wunden,

Garben stehen gebunden,

Sanft zuhaufe gelehnt.

Von den schwellenden Beeren

Lodert der rote Schein!

Bäume erwarten mit schweren

Ästen das trunkne Begehren.

Nie wird die Schale sich leeren!

Und die Toten, sie kehren,

Leuchtende, wieder ein.

(Aus: W. B.: Figur und Schatten. Gedichte. München 1958)

 

Die letzte Epiphanie

Ich hatte dies Land in mein Herz genommen,

ich habe ihm Boten um Boten gesandt.

In vielen Gestalten bin ich gekommen.

Ihr aber habt mich in keiner erkannt.

Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,

ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn.

Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher

und meintet noch Gott einen Dienst zu tun.

Ich kam als zitternde geistesgeschwächte

Greisin mit stummen Angstgeschrei.

Ihr aber spracht vom Zukunftsgeschlechte

und nur meine Asche gabt ihr frei.

Verwaister Knabe auf östlichen Flächen,

ich fiel euch zu Füßen und flehte um Brot.

Ihr aber scheutet ein künftiges Rächen,

ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod.

Ich kam ein Gefangener, als Tagelöhner,

verschleppt und verkauft, von der Peitsche zerfetzt.

Ihr wandtet den Blick von dem struppigen Fröner.

Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?

(Verfaßt 1944; zuerst in "Dies irae". Gedichte. Mit einem Nachwort von P. Schifferli. Zürich 1945 veröffentlicht. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dieser Text als eines der zentralen Dokumente des inneren Widerstands gelesen.)